Der nachfolgende Artikel ist eine perfekte Darstellung eines denkbaren Szenarios, das sich in vielerlei Hinsicht sowohl mit meinem Psychogramm Putins – https://tomasspahn.wordpress.com/2014/03/04/putin-mensch-und-macht-psychogramm-eines-strasenjungen/ – deckt als auch die Konsequenzen meiner Überlegungen zur künftigen Militärstrategie Zentraleuropas unterstreicht – https://tomasspahn.wordpress.com/2014/04/20/pladoyer-fur-eine-neue-militarstrategie/ .
Der Artikel des russischen Politologen Andrej Piontkowski erschien im Original bei Echo Moskau bereits am 10. August 2014.
Wir stellen ihn seiner Länge wegen hier ein und dürfen auf diesem Wege Irina Schlegel unseren ganz herzlichen Dank für Ihre Übersetzung sagen.
All jenen Zögerern und Zauderern, die Europa mit ihrer Lähmung nach dem März 2014 unnötig an den Rand dieses Szenarios gebracht haben, sei dieser Artikel Piontkowskis wärmsten empfohlen. Möge er das eine oder andere verträumte Auge öffnen.
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DER VIERTE WELTKRIEG
von Andrej Piontkowski
Dank der Freundlichkeit zweier Kremleierköpfe- dem Moskauer “Liberalen” Karaganov (Vedomosti) und dem New-Yorker Apologeten vom “guten Hitler bis 1938” Migranjan (Expert) stellen wir uns nun ziemlich gut die Argumente der “Friedenspartei” und der “Kriegspartei” vor, die miteinander um die Ehre konkurrieren, möglichst meisterhaft das Schulterchen des Lieblingsführers zu küssen, und ihn für die eigene prinzipielle Haltung zu gewinnen.
Es wird darüber diskutiert, auf welchem Wege es effektiver wäre, die Ukraine weiter zu erwürgen: mit ökonomisch-diplomatischen oder mit offen militärischen Mitteln. Der nationale Leader müsste sich in den nächsten Tagen und sogar Stunden festlegen und seine Wahl treffen.
Schwer zu sagen, ob er ein Demiurg oder ein Opfer der verrückten Welt ist, die durch das russische TV kreiert wird, aber all die Generäle und Oberstleutnante abzuschütteln, die er als “zur Verzweiflung getriebene Donbassbewohner”-Darsteller geschickt hat, wird für ihn schon unvereinbar mit einem politischen Leben sein. Die Versuche, sich mit dem Westen auf irgendeine Formel zu einigen, die sein Gesicht retten kann (Kolesnikows Depesche), sind ohne Antwort geblieben.
Die “Friedenspartei” bietet ihm im Grunde eine langweilige und jämmerliche Agonie eines erfolglosen Politikers an. Beim Chruschtschoew nach der Kubakrise hat sie zwei Jahre gedauert (1962-1964). Beim jetzigen politischen und informativen Tempo werden die Jahre sich zu Monaten zusammenfalten.
Die “Kriegspartei” bietet ihm ein weitaus romantischeres und inspirierenderes Szenario an: den Vierten Weltkrieg der sich aufrichtenden orthodoxen Russischen Welt gegen die verdorbene dekadente angelsächsische Welt. Über diesen Krieg wie über einen bereits stattfindenden Krieg erzählen uns schwärmend die Gäste in TV-Shows von Solowjew, Mamontow und Kisseljow.
Klingt sehr patriotisch. Aber bevor man unseren orthodoxen Dschihad als falsch-gläubig einstuft, wäre es nicht schlecht, sich mal dafür zu interessieren, wie viele Divisionen der Papst hat, sprich der geistige Führer der Russischen Welt. Denn kein Staat, kein Regime wird einen Krieg anfangen, wenn er fest davon überzeugt ist, daß er es verlieren wird. Der Führer und sein Generalstab müssen im Kopf irgendeine Strategie haben, deren Realisation sie in ihrer Vorstellung zum Sieg führt. Versuchen wir doch, uns dieses Vorhaben mal vertraut zu machen.
Erste Ebene der Eskalation. Wirtschaftskrieg. Niederschmetternde Überlegenheit der dreisten Angelsachsen und ihrer europäischen Anhängseln. Diese Höhe lassen wir mal aus.
Zweite Ebene. Der konventionelle Krieg. Gewaltige, ausschlaggebende Überlegenheit des Westens. Lassen wir aus.
Dritte Ebene. Atomkrieg. Ernsthafte psychologische Überlegenheit des putinistischen Russlands. Ich habe schon mehrmals über die Natur dieser Überlegenheit gesprochen. Aber man hat mir unaufmerksam zugehört. Also, von dieser Stelle dann noch mal ausführlich und syllabierend.
In seiner berühmten Krimrede (Sudetenrede) hat Putin alle vagen kollektiven geopolitischen Phantasmen der russischen politischen “Elite” in klare Konzepte verwirklicht: die zertrennte Nation, die Sammlung der ureigenen Territorien, die Russische Welt. So wurde die Vorladung zum Vierten Weltkrieg formuliert. Und dies ist keine Vorladung zur Erhaltung des Status Quo. Sogar die dezenteste praktische Realisation der ambitionierten Idee der “Sammlung der russischen Territorien” wird die Veränderung der Staatsgrenzen zumindest zweier NATO-Mitgliedsstaaten einfordern: Lettland und Estland.
Und welche Instrumente, abgesehen von der berühmten “Geistigkeit”, könnte denn für eine erfolgreiche Konfrontation mit dem NATO-Block und die Annexion von Territorien seiner Mitgliedsstaaten ein Staat einsetzen, der der NATO in der wirtschaftlichen Entwicklung, dem wissenschaftlich-technologischen Niveau und dem Potential an konventionellen militärischen Kräften vielfach unterlegen ist?
Nur die Atomwaffen. Aber, werden Sie fragen, ist es denn nicht allgemein bekannt, dass sich im Bereich der Atomwaffen Russland und die USA genau wie ein halbes Jahrhundert zuvor in einer Pattsituation der Doktrin der Gegenseitig Garantierten Vernichtung (Mutual assured destruction) befinden, und man folglich den Atomwaffenfaktor aus den strategischen Berechnungen ausschließen kann?
Die Sache ist, dass es nicht ganz so ist, beziehungsweise GAR nicht so ist. Die Doktrin der gegenseitig garantierten Vernichtung hat nur eins, das verheerendste, Szenario des militärischen Konflikts zwischen zwei Atommächten in Betracht gezogen: den totalen Krieg. Eine Seite verübt einen Massenschlag auf die Städte und auf die Mittel der Atomwaffenbereitstellung des Gegners, im Bestreben, diese zu neutralisieren. Die Gegenseite antwortet mit den kriegshinterbliebenen Raketen auf den Konfliktinitiator.
Der Kapazitätsbestand beider Seiten, dem Gegner einen unzumutbaren Schaden zuzufügen (der Tod Millionen seiner Bürger), auch im Falle eines Vergeltungsschlages (also die Gefahr des gegenseitigen Selbstmordes) hat eben beide Gegner von dieser Handlungsweise abgehalten.
Aber die Militäranalysten beider Länder haben schon längst darauf hingewiesen, dass dieses Szenario, das die Grundlage der MAD darstellt, nicht alle möglichen Varianten des Atomwaffeneinsatzes ausschöpft. Wenn sich zwischen zwei Ländern irgendein politischer Konflikt zuspitzt, der allmählich in eine militärische Konfrontation übergeht, kann eine von den beiden Seiten ihre Atomwaffen in beschränkter Menge auf einzelnen gegnerischen Zielen anwenden. Vor welcher Wahl wird dann die politische Führung der anderen Seite stehen? Einen massierten Atomschlag auf die Städte des Gegners verüben? Aber das Resultat (siehe oben) wird der gegenseitige Selbstmord sein. Nicht die beste Variante. Kapitulation im ursprünglichen politischen Konflikt? Auch eine wenig attraktive Perspektive.
Somit versteckt sich unter der einlullenden Decke der “strategischen Stabilität” eigentlich ein unerforschter Bereich der potenziell gefährlichen Szenarien für Kernkonflikte. Bestimmte Reflexionen haben diese Überlegungen im Konzept des “beschränkten Atomkrieges” gefunden, das von der Reagan Administration in den ersten Jahren seiner Regierungszeit erstellt wurde.
(siehe Gelowani, Piontkowski “Die Evolution des Konzepts der strategischen Stabilität. Atomwaffen im 20ten und 21ten Jahrhundert”. Moskau 1997, zweite Auflage Moskau 2008)
Im Großen und Ganzen haben aber die UdSSR und die USA nach ihrer existenziellen Erfahrung der Kuba-Krise eine direkte militärische Konfrontation gemieden, die zu einer Eskalation des Konflikts auf der nuklearen Ebene hätte führen können.
Theoretisch aber ist es klar, dass in einer volatilen geopolitischen Situation die Atommacht, die auf eine Änderung des Status Quo orientiert ist, einen größeren politischen Willen zu so einer Veränderung hat, eine größere Gleichgültigkeit dem Wert vom Menschenleben (dem eigenen wie auch dem der anderen) entgegenbringt, wie auch einen bestimmten Anteil an Abenteuerlust besitzt,- ernsthafte außenpolitische Resultate allein mit der Androhung der Anwendung oder der beschränkten Anwendung von Atomwaffen erzielen kann.
Denn die nukleare Strategie ist ja nicht nur die trockene mathematische Analyse der Schlagabtauschszenarien, sondern weitgehend auch ein dramatisches psychologisches Duell.
So setzt sich Putins Agenda für den Vierten Weltkrieg nicht die Zerstörung der verhassten USA zum Ziel, was man ja nur durch den gegenseitigen Selbstmord erreichen könnte. Diese Agenda ist weitaus bescheidener, noch jedenfalls: die maximale Erweiterung der Russischen Welt, der Zerfall des NATO-Blocks, die Diskreditierung und Erniedrigung der USA als den Sicherheitsgaranten des Westens. Im Grunde ist dies eine Revanche für die Niederlage der UdSSR im Dritten (Kalten) Weltkrieg, genauso wie der Zweite Weltkrieg der Revancheversuch Deutschlands für die Niederlage im Ersten war. Ein Hundertjähriger Krieg (1914-2014) in vier Akten mit einem Epilog.
Schauen wir uns doch in diesem Kontext ein von mir erstelltes, viel unter den Experten besprochenes , durchaus mögliches Szenario des Vierten Weltkrieges an. Im Zuge der Realisation des geistig erhellenden Konzepts der Sammlung von ureigenen russischen Territorien, das von W. Putin in seiner historischen Rede am 18ten März bekanntgemacht wurde, werden die mit einem einzigartigen genetischen Code beschenkte, leidenschaftliche russischsprachige Bewohner von Narva (Estland) ein Referendum über den Anschluss an die Russische Welt durchführen. Für die Realisation der Ergebnisse ihrer Willensbekundung werden auf das estnische Territorium bis an die Zähne bewaffnete grüne Männchen entsendet, mit Abzeichen oder ohne, die dann geschäftig neue Grenzmarkierungen setzen. Wie wird in so einer Situation der aggressive NATO-Block agieren?
Dem Schlüsselartikel des 5ten Statuts dieser Organisation müssen alle seine Mitgliedsstaaten eine sofortige militärische Unterstützung für Estland erweisen. Manche von diesen Staaten haben technische Möglichkeiten einer Eliminierung von Eindringlingen innerhalb einer halben Stunde mittels ferngesteuerter Feuereinwirkung. Eine Absage der Estland-Verbündeten, ihren Pflichten nachzugehen, wird ein Ereignis von historischer Bedeutung werden: es wird das Ende der NATO, das Ende der USA als Weltmacht und eine vollständige politische Dominierung des putinistischen Russlands nicht nur im Areal der Russischen Welt, sondern am ganzen europäischen Kontinent werden. Trotzdem ist die Antwort auf die Frage, ob die NATO Estland im Falle seiner nachbarschaftlichen Vergewaltigung seitens einer Atommacht beschützt, gar nicht so offensichtlich.
Der Autor eines interessanten Artikels “Die Welt ist nicht verrückt” (http://politikan.com.ua/8/0/1/81808.htm) Yuri Felschtinskij, zum Beispiel, sagt folgendes: “Und hier werden wir dann tatsächlich vor einer Bedrohung eines Krieges zwischen Russland und der NATO stehen, wobei Putin sich sicher sein wird, daß die NATO keinen Krieg wegen Ostseestaaten anfangen wird, kein Risiko einer Atomkatastrophe eingehen wird… So wie Hitler, wird er denken, dass der Westen kalte Füße kriegt. Das werden sie aber nicht (was die westlichen Demokratien, wie auch Putin, noch gar nicht wissen)”.
Wissen Sie, das ist der seltene Fall, wo ich mehr dazu neige, mit Putin und Hitler einverstanden zu sein, als mit Felschtinskij. Zumal nach Felschtinskij die westlichen Demokratien noch gar nicht wissen, wie sie in einer kritischen Situation reagieren werden. Putin weiß aber, dass sie wissen, dass sobald sie Estland zur Hilfe kommen, Putin mit einem sehr beschränkten Atomschlag antworten kann. Vernichtet, zum Beispiel, zwei europäische Hauptstädte. Kein London oder Paris, selbstverständlich. Wer weiß, wie man in einer Verzweiflung reagieren kann, nach so einem Schlag, auch eine kleine Atommacht.
Und nun versetzen Sie sich an die Stelle des Nobelpreisträgers Obama. Er ist der Einzige, der sich irgendwie in den plötzlich zugespitzten Konflikt eines niemandem in Amerika bekannten, verflucht soll es sein, Städtchens namens Narva einmischen kann. Und die ganze progressive aber auch reaktionäre amerikanische Gesellschaft wird ihm im Einklang zurufen: “Wir wollen nicht für das fucking Narva sterben, Mr. President!”
Übrigens, dieselbe Meinung vertritt auch die Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands, wo es vor kurzem eine soziologische Umfrage zum Thema: “Soll Deutschland seinen Bündnisverpflichtungen nachgehen, im Falle einer militärischen Konfrontation mit Russland?”. 70% der friedliebenden deutschen Bürger haben geantwortet: “Nein, Deutschland muss eine neutrale Position in diesem Konflikt einnehmen”.
Putin beobachtet seine westlichen Partner schon seit einiger Zeit und empfindet tiefe Verachtung für sie. Wie soll er sie sonst wahrnehmen, wenn sich die Kanzler und die Premierminister des großen Europas in eine Schlange stellen, um Lakaien an seinen Tankstellen für jämmerliche 2 Millionen Euro im Jahr zu sein? Oder nach dem Putin zusammen mit Assad mit einem chemischen Schlag alle westlichen Leader wie kleine Kinder beschissen hat, in dem er die Tagesordnung der syrischen Krise gänzlich ausgewechselt hat: aus einem Henker der Sunniten Gemeinde wurde Assad schlagartig ein respektabler Staatsmann, der sich mit der ehrenhaften Aufgabe der chemischen Abrüstung beschäftigt.
Putin hat damals den Obama mit seinen Red Lines durchgerechnet, und heute hat er seine ehemaligen Partner von G8 durchgerechnet. Er ist überzeugt, daß er sie in potenziellen militärischen Konflikten überspielen kann, die auf dem Weg zur Realisation der großen Idee der Russischen Welt entstehen werden, ungeachtet dessen, dass Russland der NATO im Bereich der üblichen Militärausrüstung um ein vielfaches unterlegen ist, und die USA im Kernwaffenbereich auch nicht überlegen sind. Wir werden mit unserem Willen alles erstürmen! Mit dem Willen und mit der Dreistigkeit. “Wie soll ein Schüler gegen die Assis vorgehen”, die dazu auch noch mit Atomwaffen umgürtet sind, und bei jeder Gelegenheit an diesen Gürtel erinnern? Wenn der Genosse Kim Chen In nur mit einem Eimer Atombrühe die ganze “zivilisierte Welt” um sich tanzen lässt, welche Possen kann denn der Herr Krim Put In mit dieser Welt treiben, der ja ein enormes Atomarsenal besitzt?
Der Plan des Vierten Weltkrieges der Russischen Welt gegen die angelsächsische Welt ist dreist, paradox, abenteuerlustig, und hat aber Chancen auf Erfolg.
Davon abgesehen, im Falle einer Niederlage bleibt in Putins Tasche immer die Unentschiedenvariante: die klassische Gegenseitig Garantierte Vernichtung, radioaktive Asche namens Kisseljow. Das Verständnis dieses Umstands und die wachsende Einsicht dessen, mit wem sie es gerade zu tun haben, wird eine paralysierende Wirkung auf seine “Partner” im zukünftigen Vierten Weltkrieg ausüben. Das tut es jetzt schon.
http://www.echo.msk.ru/blog/piontkovsky_a/1376104-echo/