Von Märtyrern und den Wertschöpfungsketten der Zivilgesellschaft

 

„Sie machen einen etwas zurückgebliebenen Eindruck …“

 „Ich war ein etwas zurückgebliebenes Kind, und deswegen bin ich nach Afrika gegangen. Ich arbeite dort. Als Missionarin. Ich betreue kleine braune Babies, die noch zurückgebliebener sind als ich es war. Ich war mit … ich war in einer internationalen Gruppe. Wir haben Geld gesammelt für die afrikanische Mission bei amerikanischen Reichen. Ich habe Vorträge in Schwedisch gehalten, vor vielen Zuhörern. Im schwedisch-amerikanischen Institut in Minneapolis und anderen große Städten. In zehn Wochen  haben wir 14.000 Dollar und 27 Cents gesammelt.“

„Wann haben Sie begonnen, sich für Religion zu interessieren?“

 „Vor fünf Jahren. Im Sommer. Ich war mal wieder krank, wie meistens, und saß im Gras, im Garten, und ich sah Jesus, Jesus im Himmel, mit vielen, vielen, vielen kleinen Kindern. Aber alle Kinder waren braun, und das war ein Zeichen für mich. Ich sollte mich um kleine, braune Kinder kümmern.“

„Waren Ihre Eltern religiös?“

 „Nee – sie hatten überhaupt keine Achtung vor Gott. Nein. Dann war’s nicht nur ein Zeichen – es war auch eine Strafe Gottes.“ (bekommt ein Weinkrampf)

„Ich bin sicher, dass Gott Ihnen vergeben wird. Was vielleicht noch wichtiger ist: Auch Ihrem Vater und Ihrer Mutter.“

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Filmenthusiasten werden diesen Dialog sofort erkannt haben. Es ist die Befragung der Greta Ohlsson durch Hercule Poirot in der Agatha-Christie Verfilmung des „Mord im Orient Express“ von 1974. Ingrid Bergmann spielte die geistig zurückgebliebene Missionarin, Albert Finney den Detektiv.

Es ist ein Dialog, der sich heute ähnlich finden könnte. Beispielsweise zwischen einem italienischen Staatsanwalt und einer NGO-Schlepper-Aktivistin. Nur würde die Befragte sich bestimmt nicht als zurückgeblieben bezeichnen, sondern sich als in besonderem Maße fortschrittlich und entwickelt, vor allem aber als berufen beschreiben. Auch wenn der Berufende vermutlich nicht Gott wäre, sondern etwas nicht minder abstraktes wie globales Menschenrecht. Die Bereitschaft, für die Sünden der ungläubigen Eltern zu sühnen – sie fände sich jedoch zweifellos, wenn auch ungesagt, in der Motivationsforschung.

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Märtyrer leben vom Leiden. Sie leiden an ihrer Existenz und an der Existenz an sich und fühlen sich für dieses Leid verantwortlich. Sie leiden an der Existenz ihrer Vorfahren und deren Handeln und meinen, für deren vermeintliche Sünden Sühne leisten zu müssen.

Um sich selbst von der unerträglichen Last dieser gefühlten Schuld zu reinigen, sind Märtyrer zum Opfer bereit. Wir sprechen in solchen Fällen von einem Märtyrersyndrom.

Manche opfern nur Gewohnheiten oder Dinge, die ihnen lieb und teuer sind. Auch wenn bei ihnen das Märtyrersyndrom nicht voll entwickelt ist, so findet es sich in seinen Ansätzen bereits beim rituellen Fasten. Denn der Märtyrer neigt zur Selbstkasteiung. Das Opfer an sich selbst wird ihm zur Pflicht.

In seinen ausgeprägten Symptomen ist der Märtyrer deshalb auch bereit, sich selbst zu opfern. Das Opfer wird Sühne und Segen zugleich. Denn die Sühne des Opfers soll gleichzeitig Jenen Segen bringen, denen zuliebe das eigene Opfer vorgeblich gebracht wird.

Gleichzeitig ist das Martyrium ein Versuch jenes urmenschlichen Strebens nach Unsterblichkeit. Je spektakulärer das Opfer seiner selbst, desto größer die Erwartung, sich im Gedächtnis der Nachwelt zu verewigen. Und so paart sich im Märtyrersyndrom immer auch der scheinbare Altruismus des Opfers mit dem Egoismus der Selbstüberhebung.

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Das Märtyrersyndrom ist so alt wie die Menschheit. Dennoch bleiben die meisten Märtyrer unbekannt, sind mit Glück irgendwo eine kleine Fußnote in den Geschichtsbüchern. Nur wenige wurden für ihr Opfer geehrt oder sogar von der Sache, um derer Willen sie sich geopfert haben, heilig gesprochen. Einer schaffte es allerdings sogar, mit seinem Selbstopfer eine Weltreligion zu begründen. Er war bereit, die gesamte Sünde der damals noch nicht ganz so zahlreichen Menschheit auf sich zu nehmen. Dafür nagelten ihn die Römer in Abstimmung mit hasmonäischen Priestern ans Kreuz – und Evangelisten schufen daraus eine Legende, die die Jahrtausende überdauern sollte.

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„Ich bin weiß, Deutsche, in einem reichen Land geboren und habe den richtigen Pass. Ich fühle die moralische Pflicht, denen zu helfen, die nicht die gleichen Chancen haben.“

Die diesen bemerkenswerten Satz gegenüber der italienischen Zeitung „La Repubblica“ sagte, hat sich als Carola Rackete in den vergangenen Tagen durch so ziemlich alle Gazetten bewegt, die der deutsche Medienmarkt zu bieten hat. Er soll sagen: Ich trage in mir eine vierfache Schande. Als Weiße bin ich verantwortlich für die jahrhundertlange Knechtschaft aller Nicht-Weißen. Als Deutsche gehöre ich einem Volk von rassistischen Verbrechern an. Die Ungerechtigkeit der Welt hat mich dennoch und ohne eigenes Zutun in ein reiches Land geboren. Das gibt mir trotz meiner unendlichen und unverzeihlichen Schuld das Privileg eines Passes, der mir alle Türen zum Schlaraffenland öffnet. Diesen Widerspruch ertrage ich nicht, deshalb kompensiere ich ihn mit meinem Helfersyndrom.

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Italien, das seit Jahren die Hauptlast der durch sogenannte Nichtregierungsorganisationen (NGO) gesicherten, illegalen Einwanderung über das Mittelmeer trägt, hat die Tore dicht gemacht. Es will dem illegalen Tun auf dem Mittelmeer ein Ende bereiten, verweigert den NGO-Shuttleschiffen die Einfahrt in seine Häfen. Rackete wollte es nicht hinnehmen.

Auf ihren bemerkenswerten Satz der Selbstkasteiung reagierte Matteo Salvini, Innenminister der Republik Italien, via Twitter:

„la signorina ha detto ‚Devo fare volontariato perché sono nata bianca, ricca e tedesca‘. Ma non è che tutti i bianchi, ricchi e tedeschi devono venire a rompere le palle in Italia. Aiuta i bimbi in Germania! Immigrati usati come merce di scambio.“ [Die junge Dame hat gesagt „Ich muss das als Freiwillige tun, weil ich weiß, reich und deutsch geboren bin.“ Aber nicht alle Weißen, Reichen und Deutschen müssen kommen und ihre Bälle* in Italien spielen. Helft den Kindern in Deutschland! Gebrauchen Sie nicht Einwanderer als Ware.“ – *palle; in einigen deutschen Medien als „Eier“ im Sinne von „Hoden“ übersetzt; sinngemäß vulgärdeutsch: Nicht alle … müssen ihre Eier in Italien kraulen.]

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Rackete hyped sich zur Märtyrerin. Und sie wird gehyped. Statt die als „Schiffbrüchige“ aufgenommenen Illegalen in den nächsten sicheren Hafen in Tunesien zu bringen, macht sie 42 Afrikaner zur Geisel der NGO-Geschäftspolitik, kreuzt 15 Tage vor Lampedusa.

Salvini fragt: Warum ist sie in der Zeit nicht nach Holland gefahren, wo ihr Schiff zugelassen ist?

Die Antwort wissen er und Rackete: Die NGO-Legende des „nächsten sicheren Hafens“, den das internationale Seerecht für echte Schiffbrüchige vorsieht und den die NGO nur in Italien zu finden behaupten, wäre spätestens damit als NGO-Ammenmärchen entlarvt worden.

Doch Rackete verkauft es mit mehr Emotion: „Der Vorschlag ist menschenverachtend, wieso sollte ich die Menschen dem Risiko einer so langen Reise aussetzen?“

Rund 2200 Seemeilen liegen zwischen Lampedusa und Rotterdam. Kommt die Sea Watch 3 auf 15 Seemeilen pro Stunde, braucht sie dafür keine sieben Tage. Hält sie entlang der Küste, werden es vielleicht zehn.

Aufgemerkt, liebe Kreuzfahrttouristen – wir lernen: 15 Tage NGO-Geiselhaft auf dem Mittelmeer sind nicht menschenverachtend. Eine Sieben-Tage-Fahrt von Lampedusa nach Rotterdam – entlang den Küsten Europas – hingegen ist es.

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In dem mit der Süddeutschen Zeitung assoziierten Webportal „jetzt“ verkündet Rackete ihren Rechtsbruch; die Spielerin mit Migranten aus Afrika inszeniert sich selbst als Opfer:

„Ich bin, wie alle anderen, völlig übermüdet. Alle Geretteten sind traumatisiert und ich kann schlecht einschätzen, wann die Situation außer Kontrolle gerät. Es ist unglaublich frustrierend, dass vom italienischen Staat nichts kommt. Und ich ärgere mich, dass mit dem Leben dieser Menschen so gespielt wird. Ich sehe nicht, wie das weitergehen soll. Dann muss man die Lösung selbst herbeiführen. … Ich denke eher, dass wir heute Abend, wenn ein Liegeplatz im Hafen frei ist, einfach ohne Erlaubnis der Hafenbehörde einfahren werden. Offensichtlich geht es nicht anders. Wir können die Menschen nicht noch tagelang an Bord dieses Schiffes lassen. Es muss eine Lösung geben. Wenn Italien nicht kooperiert, können wir die Lösung nur erzwingen.“

Es folgt die Umkehr des Tatsächlichen. Sie, die dem italienischen Staat 42 illegale Einwanderer aufnötigen will, fühle sich von Italien und von Europa genötigt. Dann tischt sie eine Behauptung auf, die nicht den Tatsachen entsprechen kann: „Die Menschen an Bord wurden in Libyen gefoltert, als Sklaven verkauft oder gekidnappt. Sie sind schutzbedürftig.“

Wäre es so: Wer hat die verkauften Sklaven freigekauft? Wer hat die Gekidnappten aus ihrer Gefangenschaft befreit? Nicht zuletzt: Woher hatten diese Sklaven und Entführungsopfer das Geld, um die libyschen Mafiabanden zu bezahlen, die die Schwarzafrikaner auf hochseeuntüchtigen Schlauchbooten zu den NGO-Schlepperbooten bringen? Alle Welt weiß: Kein libyscher Schlepper leistet diesen Zubringerdienst aus Nächstenliebe.

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Der Berliner Tagesspiegel macht Rackete für ihren geplanten Rechtsbruch zur antiken Heldenfigur. Es seien Sätze von „archaischer Kraft“, die der Antigone des Sophokles entstammen könnten. Sie lauten: „Ich habe beschlossen, in den Hafen von Lampedusa einzufahren. Ich weiß, was ich riskiere, aber die 42 Geretteten sind erschöpft. Ich bringe sie jetzt in Sicherheit.“

Die linksgrüne Szene der selbsternannten Zivilgesellschaft stilisiert eine Rechtsbrecherin zur Ikone. Salvini nennt sie schlicht „kriminell“. Und wir lernen: Der Aufenthalt auf der Sea Watch 3 ist unsicher.

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In der Relotius-Press von der Hamburger Kehrwiederspitze darf Rackete Schuldige benennen. Sie jammert: „Europa hat uns im Stich gelassen. Seit zwei Wochen sind weder die EU-Kommission noch die Nationalstaaten bereit, Verantwortung zu übernehmen. Alles muss man selber machen.“

Das erinnert an spätpubertäre Bockigkeit. Und an jene Mütter, die ihr ungewolltes Frischgeborene in die Babyklappe werfen. Was interessiert mich meine Verantwortung? Seht zu, wie Ihr damit klarkommt! Doch was bei den zumeist ungewollten Müttern Verzweiflung ist, klingt bei Rackete nach dem Kalkül eines Trotzkopfes. Sie überkam die Schwangerschaft nicht ungewollt – sie hat sich ihre „kleinen braunen Babies“ gezielt vor der Küste Libyens gesucht.

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Was ist schon eigene Verantwortung gegen den Glorienschein der Ewigkeit! Rackete, die Märtyrerin, lässt blicken, worum es ihr tatsächlich geht.

Angesprochen auf die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung durch Italiens Ordentliche Gerichte, freut sie sich: „Wenn uns die Gerichte nicht freisprechen, dann die Geschichtsbücher!“

Dorthin führt der Weg, wie bei allen politisch Getriebenen, die die Wirklichkeit ihrer Wahnvorstellung opfern: In die gefühlte Unsterblichkeit der Ewigkeit!

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Und der Weg zur Unsterblichkeit funktioniert. Kaum angelandet, wird die 31jährige aus der niedersächsischen Kleinstadt Hambühren inhaftiert. Es schafft ihr in der Szene jenen Nimbus, für den sie sich selbst zum Opfer zu bringen bereit ist.

Aus dem Helfersyndrom wird ein Märtyrersyndrom. Rackete bricht internationales Seerecht, erzwingt die Einfahrt in den Hafen der italienischen Insel Lampedusa. Salvini erklärt, die von der „jungen Dame“ geführte „Sea Watch 3“ habe dabei vorsätzlich ein Boot der „Guardia di Finanza“ gerammt. Er bezeichnet das Erzwingen der Einfahrt als kriminellen Akt.

Der unvermeidliche Linkspopulist und SPD-Sargträger Ralf Stegner springt als einer der ersten auf den zivilgesellschaftlichen Zug. Er twittert: „Mutige #CarolaRackete verdient unsere politische Unterstützung. #Seenotrettung darf nicht diskreditiert werden!“

Der nicht minder unvermeidliche Totengräber der evangelischen Christenheit, Heinrich Bedford-Strohm, meldet sich zu Wort: „Dass Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete heute Nacht beim Anlegen im Hafen von Lampedusa tatsächlich festgenommen wurde, macht mich traurig und zornig. Eine junge Frau wird in einem europäischen Land verhaftet, weil sie Menschenleben gerettet hat und die geretteten Menschen sicher an Land bringen will. Eine Schande für Europa!“

Einmal mehr gilt für die linksgrün beschalten und pseudoklerikalen Vertreter einer sinnentleerten Hybris: Gott bricht jedes Menschenrecht! Kein Wunder, dass der Oberevangele in Ehrfurcht vor jenem Mohammed das Kreuz abnimmt, für den nur von ihm erdachtes Gottesrecht Recht ist.

Auch der grüne Frauenversteher und Wunschkanzler der linken Zivilgesellschaft, Robert Habeck, mag nicht zurückstehen. Die Verhaftung der Rechtsbrecherin, von Habeck ebenfalls gendergerecht „Kaptitänin“ genannt, zeige die „Ruchlosigkeit der italienischen Regierung“!

Recht so: Wer Recht bricht, wird zum Helden, wer sich an Recht hält und es einfordert, ist bösartig, gemein, heimtückisch, niederträchtig, verschlagen, perfide, infam – um nur einige der Synonyme der Ruchlosigkeit zu nennen. Schon wieder haben Habecks Exkurse die Qualität jener Diktatoren-Sprüche, mit denen er die Bayern und andere niedermachte. Der Mann mit den Löchern in den Socken lernt es nicht – auch wenn er aus Angst vor der Gefahr des undurchdachten, unkalkulierbaren Bekenntnisses der eigenen sozialen Unzulänglichkeit längst ausgezwitschert und sein Gesicht aus den sozialen Netzwerken entfernt hat.

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Laut Rackete stehe hinter ihr „die ganze Zivilgesellschaft“. Da ist sie also wieder, diese rauf-und-runter-zitierte und dauerstrapazierte Gegenkultur der selbsternannten Bessermenschen, die über dem Recht und über den Institutionen des demokratischen Staates steht.

Rackete, die junge, weiße, reiche, deutsche Märtyerin einer besseren Welt, trotzt dem Recht und dem gewählten Innenminister Italiens. Diesem häßlichen, alten, weißen, leider nicht-deutschen Mann Salvini. Aber auch Italien hat seine Fascho-Geschichte. Salvini passt schon. Rechts. Populist. Nationalist. Ein Unmensch. Ein Feind.

Rackete soll ihr Frontalangriff gegen den römischen Wiedergänger des absolut Bösen den Heldenstatus in den ewigen Annalen der neuen Gesellschaft bringen. Und ihrer NGO viel Geld.

50.000 Euro Strafe drohen für die illegale Einfahrt in den italienischen Hafen. So what! Das war diese Marketingaktion allemal wert. Anzeigenschalten in all jenen Magazinen, die die Rackete zur Heldin hochschießen, wäre deutlich teurer gekommen. Und lange nicht so wirkungsvoll gewesen.

Der Hype der Heldin wider den rechten Salvini, für die Kämpfer der eineinzigen Kuschelwelt, in der sich die unverdienten weißen Europäer dem Rest der leidenden Menschheit zum Opfer bringen – er wird die Kassen sprudeln lassen. Soll Salvini doch die dritte „Seewache“ als Pfand nehmen.

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Schon die etwas zurückgebliebene Greta Ohlsson wusste: Helfersyndrom und Märtyertum verkauft sich gut. 14.000,27 Dollar waren zur Zeit des Orientexpress ein Vermögen.

Heute geht das deutlich professioneller. Vor allem, weil die zivilgesellschaftliche Wertschöpfungskette unverdrossen und kräftig mithilft. Dabei verkauft Seawatch nicht nur ein paar Vorträge über „kleine braune Kinder“, sondern betreibt mit dem Schicksal großer, brauner Männer Ablasshandel und Heiligenverehrung in einem.

Im Mittelalter waren es die Kirchen, die ihren Schäfchen mit der Einrede des unverdienten Glücks für das Seelenheil die Taler aus den Taschen zogen. Heute sind es die NGO und die von ihnen erfundene Zivilgesellschaft.

©2019 spahn

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