Teil 1 – Die Causa Ukraine
Stellen wir uns eine Situation vor, in der ein barbarischer Mann über eine Frau herfällt, um sie zu vergewaltigen. Die Frau setzt sich zur Wehr, tritt dem Mann nicht nur kräftig gegen verschiedene Körperteile, sondern verpasst dem Vergewaltiger mit ihren Fingernägeln eine kräftige Schmarre im Gesicht. All das aber hält den Barbaren nicht davon ab, seinen Akt der Vergewaltigung fortzusetzen – und die Schmarre im Gesicht nimmt er zudem zum Anlass, die Frau, die er mit seinem massigen Körper ohnehin schon zu erdrücken sucht, mit besonderer Lust zu quälen.
Was würden wir denken, wenn wir eine solche Szene in einem Film – oder schlimmer noch im echten Leben – zu sehen bekämen? Die Antwort möge sich jeder selbst geben.
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Angeblich soll es den Ukrainern am ersten Freitag im April erstmals gelungen sein, ihre Verteidigung auf das russische Kernland auszudehnen. Nach Darstellung des örtlichen Verantwortlichen sollen in der Nacht zwei ukrainische Hubschrauber das Tanklager von Belgorod angegriffen und in Brand gesetzt haben. Tagsüber seien mehrere Raketen auf die Stadt niedergegangen und hätten weitere Schäden verursacht. Belgorod liegt rund 40 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt und es ist davon auszugehen, dass in den Tanks auch Treibstoff für die Fahrzeuge der Invasionsarmee gelagert worden sein wird. Handelte es sich um einen Krieg, wären derartige Tanklager ein legitimes Angriffsziel.
Doch sei es, dass die Herren im Kreml völlig geschockt waren darüber, dass nun auch russisches Territorium einen kleinen Kratzer seitens der sich wehrenden Ukrainer hat hinnehmen müssen, sei es, dass die Arroganz der russischen Führung nach wie vor paralysiert ist von der Tatsache, dass die Ukraine es gewagt hat, sich zu wehren – das Sprachrohr des Oberkommandierenden der „militärischen Spezialoperation“, Dmitry Peskow, ließ wissen: „Das ist nichts, was als etwas wahrgenommen werden kann, das angenehme Voraussetzungen für die Fortsetzung von Gesprächen schaffen kann.“ Womit wir nun wieder bei der eingangs dargestellten Szene sind: Der Vergewaltiger will den Kratzer in seinem Gesicht offenbar zum Anlass nehmen, sein Opfer noch länger und heftiger zu quälen.
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„Handelte es sich um einen Krieg“, schrieb ich oben. Der Konjunktiv wurde sehr bewusst gewählt. Denn für die Beurteilung dessen, was gegenwärtig auf dem Territorium der Ukraine und nun möglicherweise auch der Russischen Föderation geschieht, wird es mehr noch als in der Gegenwart für die Zukunft wichtig sein, den Vorgang korrekt zu beurteilen.
Tatsächlich ist man schnell geneigt ist, von einem Krieg zu sprechen. Dieses umso mehr, als der russische Oberbefehlshaber Wladimir Putin die Order ausgegeben hat, dass es sich bei der „militärischen Spezialoperation“ nicht um einen Krieg handelt, sondern um eben eine solche Operation – was immer sich der unbedarfte Zuschauer darunter auch vorzustellen hat. Spricht man also von einem „Krieg“, so scheint man damit dem Obersten der „Kremlins“ die Maske vom Gesicht zu reißen. Und man ist zudem befähigt, bestimmte Handlungen als „Kriegsverbrechen“ zu brandmarken. Und doch betreibt diese Wortwahl ungewollt das Geschäft des Täters – nicht das des Opfers.
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Der Mensch den 21. Jahrhundert ist schnell dabei, einen Konflikt zwischen Gruppen, der in Gewalt ausufert, einen „Krieg“ zu nennen. So ist von „Bandenkriegen“ die Rede, wenn es beispielsweise um die blutigen Verteilungskämpfe mexikanischer Drogenkrimineller geht.
Wir sprechen von Krieg, wenn Staaten gegeneinander mit ihrer Militärmacht antreten.
Wir sprechen von „Bürgerkrieg“, wenn sich Menschen einer scheinbar gemeinsamen staatlichen Identität untereinander bekämpfen. Sprechen wir besser von Identitätskollektiven statt von Banden, wenn wir Gruppen meinen, die gegeneinander Gewalt anwenden. Und wenden wir uns kurz dem Bürgerkrieg zu als einem Phänomen, bei dem Identitätskollektive als Teile einer übergeordneten Staatsidentität gegeneinander kämpfen.
Was ist Bürgerkrieg?
Der sogenannte US-Bürgerkrieg war im Verständnis der Nachwelt ein solcher – und in seiner US-Bezeichnung wird es für einen Europäer zudem perfide, wenn dieses gegenseitige Abschlachten als „Civil War“ in den Geschichtsbüchern steht. Denn rückübersetzt als „zivil“ war das Gemetzel keinesfalls – das genaue Gegenteil war der Fall. Zudem war es ein „Bürgerkrieg“, wenn überhaupt, dann nur aus Sicht der Sieger im Norden. Denn die souveränen Staaten des Südens der englisch-kolonialisierten Vereinigten Staaten hatten lediglich von ihrem Recht Gebrauch gemacht, die Union, deren Politik sie nicht mehr teilten, zu verlassen. Weshalb der vorgebliche Bürgerkrieg faktisch ein Krieg der Union der Nordstaaten gegen die Konföderation der Südstaaten gewesen ist – eine Tatsache, bei der auch der hilfsweise genutzte Begriff eines „Sezessionskriegs“ unzutreffend ist, da es eine Sezession nur geben kann, wenn Teile eines souveränen Zentralstaats aus demselben auszuscheiden suchen und die Zentralregierung dagegen vorzugehen sucht. So können wir festhalten: In jenem Konflikt der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts dominiert heute wider die Tatsachen die Erzählung der siegreichen Unionsarmee, für die die Südstaatler „Rebellen“ und Abtrünnige gewesen sind.
Etwas anders sieht es aus im immer noch bestehenden „Bürgerkrieg“ in Syrien. Dort liegt das Kernproblem darin, dass es dem alawitisch beherrschten Staat niemals gelungen war, die unter seinem Dach lebenden Menschen unterschiedlichster ethnischer und religiöser Identität zu einem Staatsvolk mit gemeinsamer Identität zu machen. Die Bewohner blieben Araber, Turkmenen, Kurden, Jesiden, Alawiten, Schiiten, Sunniten, Drusen … und so waren sie alles Mögliche, nur keine „Syrer“. Zudem mischten und mischen im Konflikt noch diverse Fremdmächte mit, sodass der Begriff „Bürgerkrieg“ in der Sache nicht gerechtfertigt werden kann. Da es aber auch kein von einer anderen Macht erklärter Krieg ist, kann bestenfalls von „Syrischem Krieg“ gesprochen werden. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass wir bewaffnete Konflikte zwischen unterschiedlichen Identitätskollektiven grundsätzlich als „Krieg“ bezeichnen wollen, weil uns dafür kein besserer Begriff einfällt.
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Wozu diese Vorrede? Nun, wir befinden uns gegenwärtig in einer Situation, in der einmal mehr Begriffe über Verständnis und Erfolg von Propaganda entscheiden können. Wie beurteilen wir das, was an dieser Stelle neutral als „Causa Ukraine“ bezeichnet werden soll? Ist es eine „Spezialaktion“, wie es die Herren im Kreml bezeichnet wissen möchten – ist es ein Krieg, wie der Westen geneigt ist, die Causa einzuordnen? Oder ist es vielleicht etwas anderes – etwas, das wir, um die Causa zu erfassen, entsprechend auch anders bezeichnen müssten?
Blicken wir auf die Voraussetzungen der Causa. Schauen wir auf die Ukraine.
Die Ukraine als souveräner Staat
Die Ukraine als Land in der südlichen Mitte der europäischen Kontinentalplatte wurde am 20. November 1917 als sogenannte „Volksrepublik“ gegründet. Ursächlich war der Zusammenbruch des russischen Zarenreichs in seinem Krieg gegen die Mittelmächte und die Machtusurpation in Sankt Petersburg, der damaligen Hauptstadt Russlands, durch eine kleine Gruppe von Berufsrevolutionären. Die Rada, das ukrainische Parlament, beschloss seinerzeit die eigene Unabhängigkeit von einem Imperium, das an den eigenen Unzulänglichkeiten unterzugehen schien. Seinerzeit umfasste die Ukraine nicht nur die Gebiete, die gegenwärtig zum Staatsgebiet gehören, sondern weite Teile der russischen Westkaukasusregion am Schwarzen Meer ebenso wie Teile Weißrusslands und Russlands selbst. Auch im Westen griff das Territorium bis in die heutigen Staaten Polen, Slowakei und Ungarn.
Ohne bedeutende, eigenstaatliche Strukturen und Verteidigungsfähigkeit wurde die Hauptstadt Kiew von den Heeren Trotzkis eingenommen und die Ukraine bis Februar 1920 als „Sowjetrepublik“ wieder unter die Zentralgewalt des nun sowjetischen Moskau gestellt. Das „Union der Sozialistischen Räterepubliken“ genannte, großrussische Imperium beanspruchte seine Kontrolle über die Ukrainische SSR bis zum 24. August 1991. An diesem Tag erklärte die Rada angesichts eines gescheiterten Militärputsches gegen Michail Gorbatschow die Unabhängigkeit von Russland. In einer Volksabstimmung am 1. Dezember 1991 bestätigten 92,3 Prozent der Ukrainer den Unabhängigkeitsbeschluss mit der positiven Beantwortung der Frage: „Unterstützen Sie die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine?“
Bereits am darauffolgenden Tag wurde der souveräne Staat Ukraine von Russland anerkannt. Am 31. Mai 1997 schlossen die beiden Ex-Sowjetrepubliken einen Freundschaftsvertrag, in dem die heute bestehende Grenzregelung festgelegt wurde. Russland bestätigte die historisch begründete Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine und erhielt im Gegenzug das Recht, den Militärhafen Sewastopol weiterhin zu nutzen. Während der Vertrag selbst eine Laufzeit von zehn Jahren hatte und sich automatisch entsprechend verlängerte, soweit er nicht von einer Seite gekündigt wurde, galt das Nutzungsrecht für Sewastopol für zwanzig Jahre und sah ebenfalls eine Verlängerungsoption vor. Der Freundschaftsvertrag besteht bis heute fort, da ihn keine der beiden Seiten gekündigt hat. Seine aktuelle Laufzeit endet zum 27. Mai 2027.
Bereits am 5. Dezember 1994 hatte die Ukraine im Budapester Memorandum der drei WK-2-Siegermächte auf den Besitz eigener Atomwaffen verzichtet und dafür im Gegenzug vor allem von Russland die Zusage der territorialen Integrität erhalten. Somit schienen zur Jahrhundertwende die Beziehungen zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken auf gutem, freundschaftlichem Wege zu sein.
Der holprige Weg zur Demokratie
In der Ukraine selbst kam es – ähnlich wie in Russland – zur Bildung von Oligarchen-Kartellen und der Verwebung von Politik und Wirtschaft. Die Folge waren erhebliche Defizite bei der Demokratisierung der Gesellschaft sowie politische Unruhen, die zumeist in der von der Bevölkerungsmehrheit angestrebten Westorientierung und einer von Teilen des politisch-wirtschaftlichen Komplex bevorzugten Ostbindung ihre Ursache hatten. Als der prorussische ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch die Unterzeichnung eine Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union verweigerte, kam es seit dem 8. Dezember 2013 zu Protesten, die nach dem Einsatz von „Ordnungskräften“ im Februar 2014 eskalierten und am 21. Februar zur panischen Flucht des Staatspräsidenten nach Russland führten. Daraufhin erklärte ihn das Parlament am 22. Februar für abgesetzt.
Bereits während der Unruhen in der Ukraine hatte die russische Staatsführung Pläne ausarbeiten lassen, um die Krim aus der Ukraine herauszulösen und von Russland annektieren zu lassen. Damit und mit der in der Folgezeit erfolgten Besetzung der Krim sowie der Unterstützung von sogenannten Separatisten in den beiden Ostprovinzen Donezk und Luhansk ist das Datum des russischen Vertragsbruchs recht exakt auf eben jenen Februar 2014 zu datieren. Mit den entsprechenden Aktionen hatte Russland sowohl einseitig und ohne Anlass gegen den Freundschaftsvertrag von 1997 als auch gegen das Memorandum von 1994 verstoßen, weshalb jegliche seitdem von Russland in der Causa Ukraine unternommene Aktion keinerlei völkerrechtliche Legitimation hat.
Die Eskalation im Februar 2022
Recht exakt acht Jahre später kam es zur erneuten Eskalation der Situation. Am 24. Februar 2022 marschierten reguläre russische Militäreinheiten in das zu diesem Zeitpunkt noch unbesetzte Gebiet der Ukraine ein. Als die offensichtlich erwartete, weitgehend unproblematische Besetzung des souveränen Staates auf erheblichen Widerstand stieß, verlegten die Invasoren ihre militärischen Aktionen in Teilen auf Fernbombardement ukrainischer Infrastruktur und der Zivilbevölkerung, was wiederum unter anderem „Amnesty International“ von „Kriegsverbrechen“ sprechen lässt. Doch genau solche Diktionen sind in der Causa Ukraine überaus problematisch, denn sie unterstellen einen regulären Krieg nach der Definition von Völkerrecht und Haager Landkriegsordnung. Die Frage jedoch, ob es sich tatsächlich um einen „Krieg“ handelt, ist nicht nur hinsichtlich einer eventuellen, vertraglichen Vereinbarung zur Beendigung der Kämpfe von Bedeutung – sie wird auch erhebliche Wirkkraft entfalten, wenn es um den Regress für den angerichteten Schaden geht.
Kein Krieg – und schon gar kein „Ukrainischer“
Tatsächlich ist der Mensch geneigt, die Vorgänge um die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 als Krieg zu betrachten. Wobei auch unter dieser Voraussetzung die in den Medien überwiegend genutzte Diktion eines „Ukrainischen Kriegs“ grundfalsch ist. Denn sollte es sich um einen Krieg handeln, dann wäre es der „Russisch-Ukrainische Krieg“, da der Angreifer grundsätzlich genannt werden muss und dabei die erste Position einnimmt.
Wer vom „Ukrainischen Krieg“ spricht, verrichtet somit bereits das Geschäft des Kremls, da er die entscheidende Rolle Russland bei diesem Vorgang ausblendet. Mehr kann sich Putin kaum wünschen auch dann, wenn nach seiner staatlich verordneten Diktion der Begriff „Krieg“ überhaupt nicht verwendet werden darf. Dabei ist Putin faktisch sogar zuzustimmen: Sein Vorgehen in der Causa Ukraine ist kein Krieg. Es ist es auch dann nicht, wenn es nach außen diesen Eindruck vermitteln sollte. Denn ersten gilt zwischen den Völkerrechtsobjekten Russische Föderation und Ukraine nach wie vor der ungekündigte Freundschaftsvertrag von 1997 und zweitens hätte es für die Herbeiführung eines Krieges gemäß Haager Landkriegsordnung einer offiziellen Kriegserklärung bedurft. Diese ist zu keinem Zeitpunkt erfolgt.
Auch wenn das angesichts der Situation absurd klingen mag: Faktisch besteht damit zwischen den Staaten Russland und Ukraine nach wie vor ein Zustand des vertraglich geregelten Friedens. Die beiden entscheidenden Voraussetzungen für einen Krieg sind nicht gegeben. Doch um was handelt es sich tatsächlich? Trifft die Diktion von der „militärischen Spezialoperation“ zu? Oder haben wir von etwas gänzlich anderem auszugehen?
Teil 2 – Die Causa Ukraine
Was ist das, was in der Ukraine geschieht? Krieg, Angriffskrieg, militärische Spezialoperation – oder etwas gänzlich anderes?
Der Augenschein mag den Eindruck eines klassischen Krieges vermitteln. Russische Militäreinheiten – also bewaffnete Menschen unter Befehl staatlicher Organe – sind auf ukrainischen Boden vorgerückt und begehen dort nicht nur einen Feldzug gegen die Infrastruktur, sondern auch gegen die Bevölkerung. Die russische Führung vermittelt den Eindruck, hier in einen Bürgerkrieg einzugreifen: Zugunsten einer vorgeblich geknechteten und von einem Völkermord bedrohten, russischen Bevölkerung gegen das, was Wladimir Putin wahlweise „Nationalisten“, „Faschisten“, „Nazis“ oder in Anlehnung an einen im 20. Jahrhundert gegen Russland kämpfenden Ukrainer „Banderovci“ nennt.
Zu jenen, die Widerstand leisten, gehören neben der regulären Armee und Söldnern auch jene Ukrainer, die als Zivilisten gegen die Invasoren kämpfen – und dieses unabhängig davon, ob sie in der regulären Armee organisiert sind oder als Bürgerwehren aktiv werden. Laut Haager Landkriegsordnung haben letzter Kombattantenstatus – bei einer „militärischen Spezialoperation“ allerdings könnten sie schnell als das wahrgenommen werden, was im Ersten Weltkrieg „Franctireurs“ oder Freikorps hieß.
Die Voraussetzungen eines Krieges
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts einigten sich die damals führenden Staaten auf das, was sie eine Landkriegsordnung nannten. Dabei definierten sie den Krieg als etwas, das zwischen souveränen Staaten eine Konfliktlösung mittels des Einsatzes regulärer, bewaffneter Kräfte herbeiführen sollte. Ein solcher Krieg nach internationalem Völkerrecht konnte nur zwischen Staaten geführt werden – und er bedurfte einer offiziellen Kriegserklärung, was allerdings nicht nur Japaner und Deutsche in der Nachfolgezeit gelegentlich übersahen.
Bereits vor 1945 führte das internationale Recht deshalb den Begriff des Angriffskriegs ein. Ein solcher liegt demnach vor, wenn ein Staat angegriffen wird, ohne dass dieser zuvor aggressiv gewesen wäre. Zudem fehlt beim Angriffskrieg die Kriegserklärung. Mit anderen Worten: Es handelt sich bei einem „Angriffskrieg“ nicht um einen Krieg im völkerrechtlichen Sinne, sondern um einen Überfall mit militärischen, somit kriegerischen Mitteln.
Tatsächlich ist diese Definition deshalb auch problematisch, denn sie stellt damit eine einseitige, unveranlasste und unangekündigte Gewaltanwendung auf dieselbe Ebene mit dem, was unter Nationen und im Völkerrecht als „zivilisierter“ Krieg gilt.
Es gibt keinen „zivilisierten“ Krieg
Unabhängig davon, inwieweit überhaupt der Begriff „zivilisiert“ auf das, was wir Krieg nennen, zutreffend sein kann, sollte unter tatsächlich zivilisierten Menschen Einigkeit bestehen: Ein Überfall auf andere, der nicht und ausschließlich der Notwehr dient, kann niemals „zivilisiert“ sein. Er entspricht dem Verhalten einer unzivilisierten Schimpansenhorde, die grundlos in das Territorium der Nachbargruppe einfällt, um dort wahllos andere Schimpansen zu Tode zu quälen. Menschen – so sie sich denn tatsächlich als Krone der Schöpfung betrachten und sich nicht als nur geringfügig weiterentwickelte Schimpansen begreifen – sollten den Überfall auf Mitmenschen und deren Ermordung grundsätzlich aus ihrem Verhalten bannen. Tun sie es nicht, so stellen sie nicht nur unter Beweis, dass der aus der Bibel abgeleitete Krönungs-Anspruch ein philosophischer Irrtum ist, sondern unterstreichen eben auch ihre unmittelbare Verwandtschaft zu und nur marginale Weiterentwicklung gegenüber dem Schimpansen.
Wollen oder müssen wir dennoch akzeptieren, dass die unbelehrbare Menschheit als Schimpansenhorde über Nachbarn herfallen kann, um dortige Rohstoffe zu erobern oder auch nur etwas pseudoreal-imaginäres wie eine „Ehre“ zu verteidigen, dann haben Völkerrecht und Landkriegsordnung zumindest den Versuch unternommen, das Verhalten des Mensch-Schimpansen in irgendwelche „zivilisierten“ Bahnen zu lenken. Damit ist das, was als „Krieg“ zu bezeichnen wäre, dort beschriebenen Regularien unterworfen. Zwar machen diese Regularien das Ermorden der Mitmenschen nicht tatsächlich zivilisierter, doch kann sich das geschundene Gewissen des Aggressors immerhin in eine Scheinberuhigung retten, hat er sich doch, so er sich an die Regeln hält, nur begrenzt barbarisch verhalten.
Im Ergebnis jedoch bleibt die Feststellung, dass der sogenannte „Angriffskrieg“ eben kein zivilisierter und ohnehin kein Krieg ist, sondern ein barbarischer Überfall. Es kann dafür keine wie auch immer geartete Legitimation geben: Derjenige, der einen Angriffskrieg startet, ist ein Verbrecher, ein Krimineller, der mit Vorsatz den Tod seiner Mitmenschen verursacht.
Er ist dieses unabhängig davon, ob bei seinem Überfall möglicherweise zudem noch etwas festzustellen ist, was nach Kriegs- und Völkerrecht als „Kriegsverbrechen“ zu beurteilen wäre, wenn es sich um einen regulären Krieg handelte. Denn selbst nach archaischem Recht ist der Überfall auf einen Nachbarn, der Motiven wie der persönlichen Bereicherung oder gar einer imaginären, eingebildeten „Rache“ dient, ein Verbrechen. Was wiederum bedeutet: Wer als Staatsführung die Menschen eines anderen Staats ohne Anlass und ohne Ankündigung überfällt, ist nach allen denkbaren Kriterien ein Krimineller. Nichts anderes.
Rudimentäre Versuche von Scheinlegitimation
Im konkreten Fall des Überfalls russischer Armeeeinheiten auf die ukrainischen Nachbarn ist insofern bemerkenswert zu beobachten, wie die Personen, die diese Tat zu verantworten haben, zumindest rudimentär den Versuch unternehmen, eine Scheinlegitimation für ihr kriminelles Handeln zu konstruieren.
Die Perfidität dieser Versuche wird beispielsweise dann deutlich, wenn der Massenmord mit einem angeblichen Genozid begründet wird, der faktisch zu keinem Zeitpunkt stattgefunden hat und nie geplant gewesen ist, sondern lediglich auf Lügengeschichten von Terroristen beruht, die von den Aggressoren selbst persönlich eingesetzt worden sind.
Ähnlich absurd sind Behauptungen, der Kriminelle, der den Überfall zu verantworten hat, täte dieses, um irgendwelche eingebildeten oder tatsächlich existierenden „Nationalisten“ und/oder „Faschisten“ zu eliminieren. Hierzu ist schlicht festzustellen: Sollte es tatsächlich solche „Elemente“ im überfallenen Staat geben, ist es ausschließlich Angelegenheit der dortigen staatlichen Organe, diese für ihre Handlungen zur Verantwortung zu ziehen. Erst in dem Moment, wo solche „Elemente“ außerhalb des eigenen Staatsgebietes aktiv werden, hätte der davon Betroffene das Recht, gegen diese Gruppen vorzugehen. Eine Staatsführung, die ansonsten größtmöglichen Wert darauflegt, dass sie sich jedwede Einmischung in ihre sogenannten „inneren Angelegenheiten“ verbietet, begründet zwangsläufig das eigene, verbrecherische Tun in dem Moment, zu dem sie sich zur Ordnungsmacht in einem anderen souveränen Staat erhebt.
Sich der entsprechenden Fadenscheinigkeit der eigenen Argumentation bewusst, wurde von den Kriminellen zusätzlich eine vorgebliche Bedrohung fabuliert, um damit aus dem fälschlich als „Angriffskrieg“ misszuverstehenden Überfall einen völkerrechtlich gerechtfertigten Verteidigungskampf herzuleiten. Die Herren im Kreml konstruierten die erdichtete Bedrohung aus der perfiden Umkehr einer tatsächlichen Bedrohungslage, deren reale Existenz sie selbst mit ihrem Handeln definitiv unter Beweis gestellt haben: Der Beitritt zu einem Verteidigungsbündnis gegen den Angriffskrieg wurde von den Kriminellen dahingehend interpretiert, dass davon eine reale Gefahr für die Existenz des Aggressors ausgehe. Tatsächlich – was wiederum nicht nur die begrenzte intellektuelle Erkenntnisfähigkeit der Aggressoren belegt, sondern auch deren tatsächliche Motivation auf der Verhaltensebene der Schimpansen – begründete der Hauptverantwortliche seinen kriminellen Überfall auch damit, dass es sich bei dem überfallenen Staatswesen um eben ein solches nicht handele, sondern die entsprechenden Territorien eigentlich zum eigenen Staatsgebiet gehörten. Deshalb, weil es den Eindruck erwecken sollte, es handele sich lediglich um eine Ordnungsmaßnahme auf eigenem Staatsterritorium, wählte er für seinen kriminellen Überfall die Bezeichnung „militärische Spezialoperation“.
Selbst unterstellt, für eine solche Darstellung, welche begründen soll, weshalb es sich bei dem Überfall nicht um einen Angriffskrieg handele, gäbe es irgendwelche realen historischen, philosophischen oder wirtschaftlichen Begründungen, spricht gegen diese – wie sollen wir sie nennen: Lüge?, Interpretation?, Dummheit? die Tatsache, dass zwischen dem Völkerrechtsobjekt Russische Föderation und dem Völkerrechtsobjekt Ukraine ein ungekündigter Freundschaftsvertrag existiert, der ausdrücklich nicht nur die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des befreundeten Staates verbietet, sondern auch dessen territoriale Integrität und Souveränität festschreibt.
Ein ungekündigter Vertrag hat Bestand
Es ließe sich möglicherweise argumentieren, dass einer der Vertragspartner besagten Vertrag gleichsam fristlos dadurch gekündigt hatte, dass er im Widerspruch zum Vertragsinhalt die territoriale Integrität des Partners im Jahr 2014 vorsätzlich verletzt hat – doch hätte auch eine solche, vertraglich nicht vorgesehene außerfristliche Kündigung nur im Einvernehmen beider Beteiligter erfolgen können. Das ist nicht geschehen, und insofern hätte der Aggressor, unabhängig von einer möglichen Legitimität seiner Forderungen, entweder vor seiner Aggression eine Vertragsauflösung mit entsprechender Zustimmung durch den anderen Vertragspartner erwirken oder aber den bestehenden Vertrag zum 31. Mai 2017 kündigen müssen.
Tatsächlich jedoch ist eine solche Kündigung seitens der Russischen Föderation nicht einmal erfolgt, nachdem sie die vertrags- und völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Unterstützung angeblicher „Separatisten“ im Osten des Territoriums des Vertragspartners vollzogen hatte. Es mag argumentiert werden, dass besagter Vertrag damit obsolet geworden ist – doch gilt grundsätzlich, dass Verträge auch dann fortbestehen, wenn eine Seite gegen Inhalte des Vertrages verstößt. Damit setzt sie sich zwar notwendig ins Unrecht, ist aber dennoch weiterhin durch den Vertrag gebunden, solange dieser nicht auf regulärem Wege beendet ist – wozu es im konkreten Falle einer automatischen Vertragsverlängerung um weitere zehn Jahre eben jener Kündigung unbedingt bedurft hätte und der Vertrag folgerichtig nun erst zum 31. Mai 2027 gekündigt werden kann.
Es gibt kein „Recht des Siegers“
Es mag die Frage im Raum stehen, ob und welche Relevanz diese Feststellungen haben, wonach die Russische Föderation nicht nur vertragsbrüchig geworden ist, sondern zudem auch deren Führung sich unzweifelhaft und jenseits möglicher „Kriegsverbrechen“ eines Verbrechens an sich schuldig gemacht hat.
Pragmatisch betrachtet mag man sich der Auffassung hingeben, dass der Sieger über die Erzählung des Zustandekommens des Sieges bestimmt. Nun gibt es zwar derzeit (noch) keinen Sieger – also jemanden, der die mit seinem Handeln verbundenen Ziele erreicht hätte. Doch es sollte unabhängig davon die Feststellung gelten, dass auch diese Pragmatik des vermeintlichen Rechts des Siegers aus einer Zeit der präzivilisatorischen Phase der Menschheit stammt und deshalb in einer sich zivilisiert verstehenden Welt keine Relevanz haben kann. Sollte folglich jene Seite dennoch den Vorgang, der als Verbrechen und nicht als Krieg zu bezeichnen ist, vollständig in ihrem Sinne entscheiden, so ist damit eine dort behauptete Erzählung doch nichts anderes als ein Narrativ, welches mit einer sachgerechten Tatsachenbeschreibung nichts zu tun haben wird.
Teil 3 – Die Konsequenzen des Überfalls
Nachdem wir festgestellt haben, dass der russische Überfall weder ein Krieg noch ein Angriffskrieg sein kann, sondern schlicht nur ein auf Vertragsbruch basierender, krimineller Überfall ist, steht die Frage nach Beurteilung und Konsequenzen im Raum. Dabei ist die Vielschichtigkeit des Vorgangs weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag, denn aus der Tatsache, dass es sich bei dem Vorgehen der russischen Führung um Vertragsbruch und kriminelles Vorgehen handelt – eingestanden auch dadurch, dass diese Führung wider bestehende Verträge für sich in Anspruch nimmt, in der Ukraine eben keinen Krieg zu führen, sondern lediglich eine „militärische Spezialoperation“ zu betreiben – ergeben sich zahlreiche Konsequenzen.
Unrecht kann kein Recht schaffen
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Unrecht kann kein Recht schaffen.
Das bedeutet: Was immer am Ende der „militärischen Spezialoperation“ auch festzustellen sein wird – es hat keinerlei völkerrechtliche Bedeutung. Das kriminelle Handeln des Kreml erhält nicht dadurch Rechtsstatus, dass es im Sinne seiner Ziele möglicherweise erfolgreich sein wird. Selbst für den Fall, dass Moskau die Ukraine vollständig besetzt und auf welchem Wege auch immer in die Russische Föderation integriert – als Völkerrechtobjekt bleibt die Ukraine bestehen. Das wiederum legitimiert bereits heute und in alle Zukunft jedwede durch Ukrainer gegen die Besatzung vorgenommene Aktion bis hin zum Partisanenkampf und Vorgehen gegen Institutionen und Personen der Besatzungsmacht.
Sollte sich der Aggressor damit begnügen oder begnügen müssen, nur Teile der Ukraine aus dieser herauszulösen und dem eigenen Territorium zuzuschlagen, so haben solche Annexionen selbst dann keine Vertragsrelevanz, wenn die frei gewählte Regierung der Ukraine dem in einer aktuellen Situation zustimmen sollte. Denn diese Zustimmung wäre ausschließlich erfolgt durch die Anwendung und weitere Androhung krimineller Gewalt. In einer zivilisierten Weltgemeinschaft kann sie folgerichtig keinerlei juristische Relevanz entfalten: Die unter Zwang abgetretenen Gebiete blieben besetztes Land der Ukraine auch dann, wenn deren Regierung in einem Zwangsdiktat etwas anderes hätte akzeptieren müssen.
Der Aggressor ist in jeder Hinsicht regresspflichtig
Aus der Tatsache, dass es sich bei dem Überfall um ein nicht gerechtfertigtes und nicht zu legitimierendes, kriminelles Vorgehen handelt, ist weiterhin abzuleiten, dass der Verantwortliche für jedwede von ihm zu verantwortende Handlung in Regress zu nehmen ist. Dieses bedeutet nicht nur, dass die Verantwortlichen und deren Unterstützer mit ihrem Vermögen dafür haften, den Wiederaufbau und die Wiederbeschaffung der durch ihr Handeln vernichteten Güter der Ukraine auszugleichen bzw. zu finanzieren, sondern es ist zudem darüber zu entscheiden, mit welchem „Wert“ jedes durch den Aggressor vernichtete, ukrainische Menschenleben zu kompensieren ist.
Aus dieser Notwendigkeit ergibt sich zwangsläufig, dass die Ukraine bereits jetzt das Recht haben muss, russisches Eigentum weltweit als Regress für die bereits verursachten Schäden in Haftung zu nehmen. Alles, was dem russischen Staat als unmittelbar zuzuordnendes Vermögen gehört, fällt unter den ukrainischen Regressanspruch. Zudem ist das Privatvermögen jener Personen in die Haftung einzuschließen, die den Überfall durch eigenes Handeln oder ideell unterstützt haben. Theoretisch könnte die Ukraine sogar Anspruch auf das Vermögen jener Nichtrussen erheben, die das Verbrechen der russischen Staatsführung durch die Übernahme der von dort verbreiteten, unzutreffenden Erzählungen zu rechtfertigen suchen, da diese sich mit dem Verbrecher gemein gemacht haben und sich insofern für die Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu verantworten haben. Zudem stünde die Frage nach Regress hinsichtlich jener im Raum, die den Krieg indirekt beispielsweise dadurch finanzieren, indem sie dem russischen Staat dessen Produkte abkaufen.
Auch ein theoretischer Anspruch kann Relevanz entfalten
Den vorangegangenen Feststellungen mag entgegengehalten werden, dass sie rein theoretischer Natur sind und keine reale Relevanz entfalten, da „Russland“ – sprich deren gegenwärtig Verantwortliche – jede Regressleistung verweigern wird. Tatsächlich mag eine derartige Auffassung vertreten werden, wenn man, wie es der ukrainische Botschafter dem bundesdeutschen Finanzminister vorwirft, das vorgebliche „Recht des Stärkeren“ widerstandslos hinzunehmen bereit ist.
Nun sollte es keine Debatte darüber geben können, dass dieses „Recht des Stärkeren“ auch dann, wenn es real zu konstatieren sein sollte, eben genau das nicht ist: Recht. Diese Auffassung stammt aus der Archaik früherer Entwicklungsphasen der Menschheit, in denen eben noch jene Schimpansenbarbarei als „Recht“ fehlinterpretiert wurde. Durch die Zivilisierung der Menschheit über das Schaffen und Anwenden von regulärem und verbindlichem Recht kann jedoch von einem solchen „Recht des Stärkeren“ nicht mehr die Rede sein. Soweit hinsichtlich der Stärke – also der Möglichkeit, durch eine barbarische Überlegenheit der Gewalt einem anderen seinen Willen aufzuzwingen – die Rede sein soll, so wäre bestenfalls von einer „Macht des Stärkeren“ zu sprechen. Im konkreten Falle bedeutet dieses: Möglicherweise hat die Russische Föderation die militärische Stärke, ihre Macht gegen den Überfallenen durchzusetzen. Recht allerdings wird daraus nicht, denn in einer zivilisierten Welt kann Macht allein kein Recht schaffen.
Traditionelle Auffassungen stehen zur Disposition
Damit stehen wir nun vor einem spezifischen Problem, welches die traditionellen Überlegungen zur Änderung der Situation außer Kraft setzt. Wir werden sie kurz skizzieren.
- Ein vertraglicher Friedensschluss ist hinsichtlich des russischen Überfalls auf die Ukraine nicht möglich. Er ist deshalb nicht möglich, weil ein solcher Vertrag nur auf Basis eines völkerrechtlich als solcher zu verstehenden Krieges möglich sein kann. Da bei dem verbrecherischen Überfall auf die Ukraine nicht von einem „Krieg“ gesprochen werden kann und auch die Hilfskonstruktion eines „Angriffskriegs“ faktisch keinen Krieg, sondern eine kriminelle Handlung beschreibt, kann es keinen Friedensvertrag zwischen kriegführenden Mächten geben. Unterstrichen wird diese Unmöglichkeit dadurch, dass sich der Aggressor weigert, seinen Überfall als Krieg zu titulieren. Wenn nun in Medien von „Friedensverhandlungen“ gesprochen wird, ist dieses einem grundsätzlichen Irrtum geschuldet. Das, was zwischen dem Aggressor und dem Überfallenen stattfindet, sind bestenfalls Gespräche – aber keine Verhandlungen. Und schon gar keine über einen Frieden, welcher auf Grundlage des Freundschaftsvertrages von 1997 nach wie vor besteht auch dann, wenn ein Vertragspartner gegen Inhalte des Vertrages verstoßen hat.
- Gleiches gilt für einen sogenannten „Waffenstillstand“. Da ein solcher eine reguläre Kriegssituation voraussetzt, kann er nicht verhandelt und schon gar nicht geschlossen werden. Denkbar ist ausschließlich die gegenseitige Zusage einer Kampfunterbrechung, welche ggf. unbegrenzt andauern kann. Sie bedeutet: Der Aggressor unterlässt weitere kriminelle Handlungen gegen den Überfallenen – der Überfallene erklärt sich bereit, gegenwärtig und bis auf Weiteres auf die Bekämpfung der aktuellen Resultate des kriminellen Handelns und deren Akteure zu verzichten.
- Denkbar scheint eine vertragliche Regelung im Grundsatz dennoch. Sie müsste jedoch das Eingeständnis des Aggressors beinhalten, sich einer kriminellen Handlung schuldig gemacht zu haben. Unter dieser Voraussetzung könnte der Angegriffene seine Regressansprüche definieren und diesen auf Verhandlungswege durch den Aggressor zustimmen lassen. Soweit es auf einer solchen Ebene zu einem Vertragswerk kommt, könnte dieses die Basis der künftigen Zusammenarbeit werden. Sie setzt jedoch voraus, dass der Aggressor von jedweder Gewaltandrohung Abstand nimmt. Jede andere, von diesem Vorgehen abweichende Regelung kann keinerlei Bestand haben, da sie den Angegriffenen unabhängig von dem, was er unterzeichnet, nicht binden kann, solange seine Zustimmung die Folge einer fortwährenden Aggression ist, welche beispielsweise in der Androhung der Fortsetzung des kriminellen Vorgehens oder der andauernden Besetzung von Teilen des Territoriums des Angegriffenen erpresst wurde.
- Da zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen ist, dass die Kriminellen ihre Verbrechen eingestehen werden und sie vielmehr weiterhin nach dem Vorbild archaischen Schimpansenverhaltens ihren Willen durch Gewaltanwendung durchzusetzen suchen, kann die Ukraine mit dem Ziel der Beendigung der Aggression letztlich jedwedem Vertragsdiktat zustimmen, ohne dadurch auch nur ein Jota ihrer tatsächlichen Ansprüche preiszugeben, selbst wenn diese im Widerspruch zu dem unterzeichneten Wort stehen mögen. Vertragserpressung mag zwischen Leningrader Mafiabanden ein übliches Vorgehen sein – es ist und kann dieses nicht sein im internationalen Völkerrecht und im Umgang von Staaten untereinander. Und das auch deshalb nicht, weil dadurch der Rückfall in jene vorzivilisatorische Epoche der Gewaltdurchsetzung im Sinne eines Präzedenzfalles manifest würde und der Durchsetzung anderer, ähnlich einseitig konstruierter Scheinansprüche durch Anwendung oder Androhung von Gewalt eine Legitimation schaffte.
- Die möglicherweise fatale Konsequenz dieser Situationsbeschreibung: Die Verantwortlichen im Kreml müssten, um sich gegen die gerechtfertigten Regressansprüche der Ukraine als Staat und der Ukrainer als Individuen abzusichern, nicht nur den ukrainischen Staat vom Erdboden verschwinden lassen – sie wären auch gezwungen, jeden Ukrainer zu vernichten. Die russische Regierung hat sich in eine Situation gebracht, die am ehesten vergleichbar ist mit jener Situation der nationalen Sozialisten in ihrem Bestreben, dass jüdische Volk zu vernichten. Der in jeder Hinsicht gerechtfertigte Regressanspruch der Überlebenden des Holocaust hätte, auch wenn das sarkastisch und unmenschlich klingen mag, letztlich nur vermieden werden können, wenn es keine Überlebenden gegeben hätte – was jenseits der emotionalen und rechtlichen Betrachtung des Menschheitsverbrechens verdeutlicht, dass die Kriminellen in der Führung des Deutschen Reichs hätten wissen können und müssen, was sie mit dem von ihnen exekutierten Massenmord tatsächlich an langfristigen Konsequenzen verursachen. Offenbar jedoch scheint es so zu sein, dass Kriminelle in der Staatsführung damals wie heute davon ausgehen, für ihre Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können – und sei es nur, weil sie sich in der Hybris ewigwährender Unantastbarkeit wähnen.
- Selbst für den Fall, dass das russische Regime infolge seines kriminellen Vorgehens eine vertragliche Regelung erpressen wird und sich damit aus dem unmittelbaren Regressanspruch ebenso wie aus der persönlichen Haftung für die von ihren Vertretern zu verantwortenden Verbrechen zu befreien meint, bleibt der ukrainische Anspruch, da der Verzicht erpresst wurde, weiterhin bestehen. Das bedeutet: Eine Ukraine kann unabhängig davon, ob sie territorial besteht oder vorübergehend um ihre Souveränität gebracht wurde, selbst im Abstand von Jahrhunderten unter Berufung auf den Freundschaftsvertrag und das verbrecherische Vorgehen der russischen Führung umfassenden Regress geltend machen. Dieser Regress umfasst sowohl die Ansprüche auf die bereits fremdannektierten Territorien als auch auf gegenwärtig oder künftig besetzte Gebiete sowie den Ersatz der Aufwendungen für die Widerherstellung der durch das verbrecherische Vorgehen der Aggressoren verursachten materiellen und ideellen Schäden. Das Vorgehen der von Wladimir Putin geleiteten kriminellen Vereinigung hat insofern einen Ewigkeitsanspruch der Ukraine und der Ukrainer verursacht, der nicht dadurch verjährt, dass er möglicherweise auf Jahrzehnte oder länger nicht eintreibbar ist. Vermieden werden könnte dieses ausschließlich dadurch, dass sich Russland bedingungslos aus der gesamten Ukraine zurückzieht und anschließend ohne Bedrohungslage die beiden Staaten auf Grundlage des bestehenden Vertragswerks über den Regress verhandeln und zu einer einvernehmlichen Lösung kommen. Über die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Situation zu einem Zeitpunkt, zu dem die kriminelle Vereinigung noch den Kreml und damit Russland kontrolliert, soll hier nicht spekuliert werden – voraussichtlich wird ein solches Vertragswerk, das das kriminelle Vorgehen im Namen Russlands aus der Welt schafft, entweder dem Zerfall der Russischen Föderation oder einer möglicherweise irgendwann einmal etablierten und demokratisch legitimierten, an das Völkerrecht gebundenen russischen Regierung vorbehalten bleiben.
Konsequenzen auch für die Soldaten Russlands
Soweit es die langfristigen Konsequenten des durch Putin zu verantwortenden, kriminellen Überfalls auf das Nachbarland betrifft, ist nunmehr Wesentliches dargestellt. Jedoch hat das Vorgehen Russlands auch unmittelbare Konsequenzen, die beispielsweise den Umgang der Angegriffenen mit den Angreifern betreffen.
Hierzu ist als erstes festzustellen: Da der Überfall kein Krieg ist, gilt auch kein Kriegsrecht. Die Invasoren – vom General bis zum einfachen Soldaten – haben keinen Kombattantenstatus, sondern sind im staatsrechtlichen Sinne als Terroristen einzustufen. Der russische Soldat, der von seiner Führung in die Ukraine geschickt wurde, unterscheidet sich in nichts von einem Kämpfer des „Islamischen Staats“, der im Irak oder anderswo gegen die bestehende Ordnung kämpft. Die Forderung aus dem russischen Generalstab, gefangene russische Invasoren seien nach den Internationalen Kriegsrecht zu behandeln, ist insofern nicht nur ohne jedes juristische Fundament – es konterkariert auch die ausdrückliche Aussage der eigenen politischen Führung, wonach es sich bei dem Überfall eben genau nicht um einen Krieg handelt.
Wenn nun, wie angeblich geschehen, ukrainische Kämpfer gefangenen Russen in die Beine geschossen haben sollen, so ist dieses menschlich gesehen zu verurteilen – und wird nach deren Zusage entsprechend durch die ukrainischen Behörden ermittelt und verfolgt -, doch ein Kriegsverbrechen ist es nicht, da es lediglich den Umgang mit Terroristen, also einer illegitimen Gruppe krimineller Personen, betrifft. Wenn es sich auf russischer Seite nicht um einen Krieg und auf der Seite der Ukraine um die Abwehr eines kriminellen Überfalls handelt, kann die Ukraine nebst deren Verteidiger grundsätzlich nicht wegen Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Entsprechende Ermittlungen, die angeblich auf internationaler Ebene erfolgen sollen, sind somit obsolet und können nur der Ablenkung vom tatsächlichen Geschehen gelten. Faktisch befindet sich die Ukraine in einer Abwehrsituation gegen einen Terrorangriff, für die internationales Kriegsrecht nicht zuständig ist.
Ansprüche russischer Soldaten gegen ihre Führung
Für die russischen Soldaten ist diese Situation nicht nur kriegsrechtlich prekär, da sie nicht unter dem Schutz der entsprechenden, völkerrechtlichen Abkommen stehen – sie wurden auch von ihrer Führung in eine in jeder Hinsicht unhaltbare Situation gebracht. Da sie, offenbar ohne es wissen und sich dagegen wehren zu können, von der kriminellen Vereinigung im Kreml vorsätzlich in diese unhaltbare Situation eines illegalen Überfalls auf Dritte gebracht wurden, entsteht hier ein weiterer, unmittelbarer Regressanspruch sowohl der Soldaten selbst als auch deren Hinterbliebenen gegen die für ihre Situation Verantwortlichen. Hier gilt ebenso: Selbst wenn aufgrund der aktuellen Machtverhältnisse in Russland ein solcher Regress seitens der missbrauchten Soldaten und ihrer Familien und Hinterbliebenen aktuell nicht einzutreiben sein wird, bleibt er bestehen – und zwar gegen jeden, der unmittelbar oder mittelbar durch Befehlsvergabe oder Unterstützung der rechtswidrigen Vorgehensweise der Führung im Kreml an der kriminellen Situation Verantwortung trägt.
Angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Überfall nicht um einen Krieg, sondern um eine kriminelle Handlung handelt, kann umgekehrt jedoch auch beispielsweise die Totalzerstörung einer Stadt wie Mariupol kein Kriegsverbrechen sein. Vielmehr handelt es sich dabei um einen kriminellen Exzess von ungeahnter Tragweite, der im Namen eines Staates begangen wird. Hier sind nicht nur die Auftraggeber im Kreml in die Verantwortung zu ziehen, sondern jedwedes Individuum, das sich an diesem Verbrechen mittelbar und unmittelbar beteiligt. Soweit der Internationale Gerichtshof seinem Anspruch gerecht werden will, ist er unabhängig davon, ob er der betreffenden Personen habhaft wird, verpflichtet, entsprechende Verfahren gegen die Verantwortlichen einzuleiten. Dieses gilt zudem überall dort, wo geltendes Strafrecht sich nicht auf Handlungen innerhalb der staatlichen Zuständigkeit der jeweils urteilenden Gerichtsbarkeit beschränkt. Die Verantwortlichen für den kriminellen Überfall und den daraus resultierenden Massenmord wären demnach mit internationalem Haftbefehl zu verfolgen und nach Möglichkeit in Haft zu nehmen. Ihre Vermögenswerte wären zwecks Regress zu konfizieren.
Jenseits der persönlichen Haftung der Verantwortlichen besteht zudem dauerhaft ein Anspruch gegen den Staat, in dessen Namen dieses Verbrechen begangen wurde.
Das Recht der Ukraine auf Handlungen in Russland
Ein letzter, hier anzureißender Aspekt ist die Reaktion der Überfallenen hinsichtlich möglicher Aktionen im Herkunftsland der Invasionstruppen. Hier steht aktuell jener zu Beginn erwähnte, vorgebliche Beschuss eines Tanklagers im russischen Belgorod im Raum, denn der Sprecher der kriminellen Vereinigung im Kreml zum Anlass genommen hat, eine weitere Intensivierung der kriminellen Handlungen anzukündigen.
Tatsächlich sind in Belgorod mehrere Tanks in Flammen aufgegangen. Menschenopfer sind laut zuständiger Gebietskörperschaft nicht zu beklagen. Laut russischer Seite liegt die Verantwortung für den Brand bei zwei ukrainischen Hubschraubern, die das Tanklager angegriffen hätten. Wäre dem so, so zeigte dieses zumindest erhebliche Schwächen der russischen Luftabwehr auf. Die ukrainische Führung allerdings dementiert ein solches Vorgehen, weshalb auch vorstellbar ist, dass es sich um eine False-Flag-Operation der Russen selbst handelt, die einen ukrainischen Angriff vortäuschen soll mit dem Ziel, die jüngst eingezogenen Wehrpflichtigen im Sinne einer vorgeblichen „Vaterlandsverteidigung“ ebenfalls im Rahmen des kriminellen Überfalls in der Ukraine einsetzen zu können.
Tatsächlich wäre auch ein solches Vorgehen fast schon klassisch für die permanente Umkehr der Fakten durch die Führung im Kreml. Dennoch darf festgestellt werden: Da es sich bei dem von russischem Territorium ausgehenden Überfall um einen Akt des kriminellen Terrorismus handelt, hat die Ukraine jedwedes Recht, im Herkunftsland der Terroristen deren Logistik auszuschalten. Bei einem nahe der Überfallregion gelegenen Tanklager ist grundsätzlich zu unterstellen, dass es den Terroristen zur Ausführung ihrer Handlungen dient. Insofern handelt es sich dabei für die Verteidiger um ein legitimes Ziel. Fragwürdig würde das Verhalten der Überfallenen erst, wenn sie vorsätzlich gegen Zivilpersonen und zivile Einrichtungen im Herkunftsland der Aggressoren aktiv würden. Das allerdings ist unabhängig von der Darlegung Moskaus nicht zu erkennen.
Im Ergebnis festzuhalten bleibt, dass Wladimir Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine nicht nur einen bereits erfolgten Vertragsbruch eskaliert hat, sondern auch weder einen Krieg noch einen Angriffskrieg, sondern eine kriminelle, terroristische Aktion zu verantworten hat.
Weshalb zum Abschluss der polnische Präsident Andrzej Duda zitiert werden soll, der bei einem Besuch des Vatikans auf die Frage nach einem „ehrenvollen Ausstieg für Putin“ kurz und zutreffend antwortete: „Es gibt keine Ehre für Menschen ohne Ehre!“
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