von Daniel Rothstein
Es muss der wohl älteste Trick im Repertoire des Journalisten sein: Entpuppt sich ein Sachverhalt als komplexer als das Narrativ, welches man selbst gern erzählen würde, stellt man einfach seine Blende kleiner und blendet soviel Kontext wie nötig aus, bis eine kohärente Geschichte entsteht, die mit der Wirklichkeit nicht unbedingt etwas zu tun haben muss.
Genau auf diese Art und Weise wird oft und gern über Israel berichtet. Ein treffliches Beispiel aus öffentlich-rechtlichem Hause dafür bietet ein Film von Nicola Albrecht:
„Hebron – Die zerrissene Stadt“, ausgestrahlt vom ZDF am 7. Juni 2017.
Albrecht, die das ZDF-Auslandsstudio in Tel Aviv leitet, hat sich mit diesem Thema eines der Komplexesten des Nahost-Konfliktes ausgesucht, denn anders, als es an manch anderen Orten des Westjordanlandes der Fall ist, gab es tatsächlich eine Jahrtausende lange, durchgehende Präsenz von Juden in der Stadt, bis diese 1929 im Zuge eines Massakers an der jüdischen Bevölkerung mit 67 Toten und der Vertreibung der überlebenden Juden beendet wurde.
Das Mädchen auf dem Balkon
Überraschend schnell zeigt sich selbst für die Standards der deutschen Nahost-Berichterstattung, dass es Albrecht in keinster Weise um die Vermittlung der Komplexität des Konfliktes an diesem Ort geht. In den ersten Sekunden des Films erklärt eine ältere, offensichtlich jüdisch-religiöse Dame: „Wir sind keine Besatzer, das Land gehört uns, dem Volk Israel.“
Daraufhin sehen wir ein kleines Mädchen auf einem Balkon, der wie ein kleiner Drahtkäfig aussieht.
Ein anderes Mädchen auf einem Hausdach zeigt auf die Straße: „Dann sehen wir einen Siedler, wie er auf einen jungen Palästinenser zielt, er hat ihn einfach erschossen.“
Schnitt.
Wir sehen, wie israelische Soldaten etwas, das wie eine Rauchgranate aussieht, in Richtung eines anscheinend unbewaffneten Arabers abfeuern.
Böse Juden, gute Araber
Es sind genau 37 Sekunden in diesem gut 43 Minuten langen Film vergangen und wir ahnen bereits, wohin das Narrativ steuert. Der Rest des Filmes ist damit beschäftigt, diesen Eindruck zu bestätigen:
- Wir sehen ausschließlich von jüdischen Siedlern malträtierte Palästinenser, die an nichts anderem als an der Sicherung ihres Überlebens und an der Wahrheit über die Besatzung interessiert sind.
- Wir sehen auf der anderen Seite jüdische Siedler, die ebenso ausschließlich aus ideologischen Gründen, vor allem aus „national-religiösem“ Wahn ihre Präsenz an diesem Ort um jeden Preis durchsetzen wollen.
Nicola Albrecht muss noch nicht einmal selbst lügen, um diese bis zur Unkenntlichkeit vereinfachte Version der Situation in Hebron vor unseren Augen auszubreiten. Denn sie bedient sich des oben erwähnten Tricks: Von einer jüdischen Präsenz in Hebron vor dem Sechstagekrieg ist an keiner Stelle des Films die Rede. An keiner einzigen. Dies führt unweigerlich dazu, dass der ZDF-Zuschauer, nicht zwangsläufig ein Experte in der Geschichte dieser Region der letzten 3000 Jahre, alle Aussagen, ob von palästinensischer oder israelischer Seite, nach der Prämisse bewertet: Die Juden sind die landesfremden Kolonialherren, die nach dem Sechstagekrieg zum ersten Mal Fuß auf den seit Vorzeiten arabischen Boden setzten, um ihn der Urbevölkerung zu entwenden.
Unter dieser Voraussetzung ist es fast schon egal, was von welcher Seite aus gesagt wird, die moralischen Rollen sind verteilt.
Selbstzensur durch Zeitperspektive
Die Filmemacher aber können ihre Hände in Unschuld waschen, will sich der Film doch ausdrücklich auf die Perspektive „50 Jahre nach dem Sechstagekrieg“ beschränken, weshalb die Verkürzung der Geschichte daher zulässig sei. Jedoch ist diese perspektivische Selbstzensur durch das Thema des Films weder angebracht noch gerechtfertigt.
Vor allem, wenn es um das Thema der jüdischen Siedlungen geht – und darum geht es ausschließlich in diesem Film – besitzt Hebron weit weniger Signifikanz als andere Orte auf den Westbanks.
Entstand anderenorts bereits im Kriegsjahr ’67 mit Kfar Etzion die erste Siedlung, so dauerte es in Hebron noch weitere zehn Jahre, bis erste Siedlungs-Aktivitäten einsetzten.
Weshalb dann aber „50 Jahre nach dem Sechstagekrieg“ in einem Film, in dem es an keiner Stelle um den Sechstagekrieg geht, aber an jeder Stelle um die jüdischen Siedlungen? Wieso nicht „40 Jahre jüdische Siedlungen“? Weitere weniger willkürlich gewählte Perspektiven wären „98 Jahre Massaker an den Juden Hebrons“ oder auch „3000 Jahre jüdische Siedlungsgeschichte in Hebron“.
An dieser Stelle wird ersichtlich, dass die „Perspektive“ entweder aus vollkommener Unwissenheit über das Thema oder wohlweislich gewählt wurde, um letztere Fakten, ohne die der Komplex „Hebron“ nicht zu verstehen ist, vorsätzlich unterschlagen werden können.
Somit ist für den Zuschauer auch nicht ersichtlich was gemeint ist, wenn die Erzählstimme mit dem folgenden Worten einsetzt:
„Nach dem siegreichen Sechstagekrieg kehren Siedler hierher zurück.“
Moment, muss man sich fragen, von woher kehrten „Siedler“ „zurück“?
Gibt es jüdische Siedlungen im Westjordanland nicht erst seit dem Sechstagekrieg?
Der Film wird im weiteren Verlauf auf diese, sein Narrativ in Frage stellende Vorgeschichte nicht eingehen, sondern prescht statt dessen weiter in die Gegenwart vor:
„(Sie) erkämpfen sich über die Jahre ein Bleiberecht bei der israelischen Regierung. Ihre Gemeinde ist auf rund 850 angewachsen. Sie leben inmitten von 200.000 Palästinensern, die ihr Land nicht aufgeben wollen.“
850 Siedler zwingen 200.000 Araber
Es zwingt demnach anscheinend jemand die 200.000 Araber, ihr Land aufzugeben. Es spielt keine Rolle, ob nun die 850 Siedler oder die israelische Regierung. Obwohl ein solcher Zwang wohl nur in der Phantasie der Redaktion existiert, bleibt die Aussage im Raum stehen.
Dann steckt die angebliche Dokumentation ihr scheinbar neutral-naives Ziel ab:
„Wir wollen wissen, was 50 Jahre Besatzung mit den Menschen hier gemacht haben… (Kunstpause, dann in eindringlichem Tonfall:) …auf allen Seiten.“
Hier wird uns ein besonders perfider, weil ausgeklügelter erzählerischer Kunstgriff präsentiert: Der in ausnehmend dramatischem Tonfall vorgetragene Nebensatz „auf allen Seiten“ soll die Neutralität der Dokumentation untermauern. Allein, wer bis jetzt noch nicht wusste, wer der Übeltäter in der zu erzählenden Geschichte sein soll – nun ist es auch dem Letzten klar: Nur die israelische Besatzung ist der alles treibende Movens des in Hebron Vorfallenden, und die Formulierung „aus den Menschen hier gemacht haben“ lässt erahnen: Es ist eine negative Kraft, die hier waltet, die sowohl Araber als auch die Israelis selbst von innen her zerstört.
Das antisemitische Narrativ
Vor diesem Hintergrund spult der Film die Interviews mit seinen Protagonisten ab: Zunächst mit einem israelischen Offizier, bei dem man sich fragt, ob er weiß, dass der Zuschauer alles, was er sagt, ohne historischen Hintergrund und mit ideologischer Einstimmung betrachten werden muss. Wenn er erzählt: „Jedem Soldaten ist klar, warum er hier sein muss, wir sehen doch, wie klein die Entfernung ist zwischen dem Haus eines jüdischen und eines arabischen Einwohners“, ist der Zuschauer bereits durch die Filmemacher in die Position gebracht zu antworten: „Wieso verschwinden die Juden dann nicht einfach aus einem Landstrich, auf dem sie nie heimisch waren?“
Daraufhin wird detailliert der Fall Azaria ausgebreitet, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass nur Araber den Vorfall als Mord einordnen würden. Ein Araber filmte den Vorfall, was die Filmemacher zu einem weiteren zentralen Punkt ihrer Geschichte bringt: „Im Kampf um Wahrheit und Perspektive sind Kameras die neue Waffe.“
Es geht in einen dominierenden Teil der Dokumentation darum, dass die alle interviewten Araber, bis auf einen Hamas-Extremisten als Feigenblatt, die Misse- und Gewalttaten ihrer jüdischen Nachbarn allein mit friedlichen Mitteln bekämpfen wollen und dazu vermehrt Kameras einsetzen. Zu diesem Zweck darf ein arabischer Aktivist vor einer arabischen Klasse in einer gut choreographierten Schulstunde den Frieden predigen, und die Kinder daraufhin mit Kameras ausstatten.
Albrecht erzählt dazu: „Mohanads Worte überzeugen sie, aber ihre Realität ist eine andere.“
Um Albrechts nur wenig verschlüsselte Sprache in logische Aussagen zu überführen, braucht es freilich keines besonders guten Übersetzers: Friedlich zu bleiben ist ein hehres Ziel ausschließlich der Araber. Dies aber lässt ihre von den Israelis bestimmte Lebensrealität leider nicht zu. Erstaunlich viele arabische Kinder kommen zu Wort. Sie dürfen von den Schandtaten der Siedler erzählen, ohne kritische Nachfragen fürchten zu müssen.
Jüdische Kinder dagegen bekommen im Film keine Stimme.
Dafür jedoch tritt eine ganze Reihe von völlig abseits des israelischen Mainstreams stehenden Gestalten auf, die vor dem deutschen Publikum einen alternativen Gründungsmythos der jüdischen Präsenz in Hebron ausbreiten dürfen: Nicht die historische, durch das Massaker von 1929 beendete Präsenz von Juden in Hebron, sondern die göttliche Eingebung einer alten Frau, ihr 1974 verstorbenes Kind damals in Hebron zu bestatten, bildet laut Albrecht die deshalb nur vorgeblich moralische Grundlage für jüdisches Leben in der Stadt. Damit wird die sich hartnäckig haltende Legende vom rein theologisch begründeten Anspruch der Juden auf Gebiete im historischen Palästina perpetuiert.
Israeli als waffenvernarrte Invasoren
Es taucht übrigens auch im weiteren Verlauf des Filmes kein Israeli auf, der nicht unter der Kategorie „verrückter, waffenvernarrter Siedler“ subsumiert werden könnte, außer einem jungen Mann aus Tel Aviv, der den Wahnsinn der Siedlungen im Westjordanland anprangert. Juden mit differenzierten Meinungen bleiben ungehört. Dagegen erfolgt ein wahrer Überschwang an von israelischem Militär gegängelten und misshandelten Arabern, wie Waad Sharabaty, einem arabischen Mädchen mit einer Kamera, in der Albrecht zum Ende des Films hin anscheinend ihren jüngeren, arabischen Widerpart findet: Sie zeichnet auf, was sie sieht, ohne Kontext, bestenfalls durch ihre eigene Perspektive interpretiert. Deshalb darf das mutige Mädchen auch ohne jede Nachfrage von den „Verbrechen der Besatzung“ berichten, die sie mit ihrer Kamera unermüdlich aufnimmt. Die Kamera schütze sie auch vor den stets gewaltbereiten Siedlern, die sich jedoch wie monströse Gestalten aus dem Dunkel vor dem Licht der Kamera „fürchten“ würden „weil sie nicht wollen, dass die Welt weiß, was sie uns hier antun.“
Der Zuschauer darf daraufhin einen Blick auf einen Laptop erhaschen, wo eines ihrer Videos läuft. Er sieht: Nichts, außer ein paar Soldaten und einen bewaffneten, weiß gekleideten Mann, der um sie herum geht. Das ist aber nicht weiter tragisch, denn Albrecht erklärt ihm aus dem Off, was eigentlich zu sehen sein sollte: „Gleich vor ihrer Tür wird ein Palästinenser von einem Siedler erschossen.“ Dem journalistisch ungeschulten Mädchen sei an dieser Stelle ihr Verzicht auf jegliche Erläuterung verziehen, der Filmemacherin jedoch nicht.
Dass alle Siedler die ständig behauptete, blutrünstige Mentalität an den Tag legen, kann zum Schluss auch nochmals Imad Abuhamsiya wirkungsvoll unterstgreichen, der den Fall Azaria filmte:
„Es sind vor allem seine Aufnahmen vom Israelischen Soldaten Azaria, der den wehrlos am Boden liegenden Attentäter erschoss, die ihm hier keiner der Siedler verzeiht.“
Kein Einziger „verzeiht“ Abuhamsiya also seine Aufnahmen, als hätten sämtliche Siedler Hebrons bei Albrecht eine Erklärung unterschrieben, irgendwann noch einmal Rache an ihm zu nehmen.
Nur die Kamera macht „Wahrheit“
Nach dem Anschauen dieses Filmes sind für den unbedarften Zuschauer zumindest einige vorgebliche Fakten über den Konflikt unmissverständlich klar: Die Juden Hebrons sind ausnahmslos sich unrechtmäßig im Stadtgebiet einnistende, religiös-verrückte Gesellen, deren Hass auf Araber nur durch ihre Angst vor der Kamera (und damit der behaupteten „Wahrheit“) übertroffen wird. Daran ändert sich auch nichts durch Albrechts dunkel formuliertem und ohne jeden Kontext obskur anmutendem Satz am Ende des Films, jede Seite habe berechtigten Anspruch auf das Gebiet. Zumindest was die Juden betrifft, bleibt dieses eine Behauptung, die durch den Verzicht auf jeglichen historischen Kontext von den Filmemachern letztlich gezielt negiert wird.
Araber hingegen sind in der Mehrzahl friedliebende, verwurzelte (meist wurde „schon sein Vater hier geboren“) und vergebungswillige Leidende, wie der Ladenbesitzer Ahmed. Nach der Erklärung der Erzählstimme, dass jüngst jugendliche Siedler bei ihm randaliert hätten (die Kamera der Filmemacher vor Ort konnte dies anscheinend leider nicht einfangen) sagt Ahmed, dass Allah ihnen vergeben werde und er auch nichts gegen Juden habe, nur will er, „dass sie hier verschwinden.“ Auch darf er, wieder von Rechtfertigungen durch Albrechts Stimme umrahmt, aus dem Off erklären, dass sein „Herz aufhören würde zu schlagen“, sollte er je sein Grundstück an einen Juden verkaufen: „Ich kann den Juden doch nicht meine Heimat verkaufen.“ Die Frage, ob dies nicht auch die Heimat der Juden wäre, wird ihm nicht gestellt – wir erinnern uns, dies ist nicht das Thema des Films.
Letztendlich bleibt das Credo der filmenden Araber haften, welches sich die Macher dieser Dokumentation anscheinend zu Eigen machen wollen: Das einzige, was zur Erklärung der „Wahrheit“ nötig ist, ist das Bedienen einer Kamera. Zieht man die Linse nur richtig, sieht man genau das, was man sehen möchte.
Dass dieses Vorgehen anscheinend auch beim ZDF-Studio in Tel Aviv als journalistisch redlich gilt, muss mehr als nachdenklich stimmen.
©2017 FoGEP
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