Im April 2013 entstand diese Auseinandersetzung mit parteipolitischen Aspekten des Liberalen. Nur ein Diskussionsbeitrag …
Wer regelmäßig Kontakt mit sich als liberal und freiheitlich empfindenden Persönlichkeiten hat – oder auch in den Leitmedien unserer Republik oder in sozialen Netzwerken wie Facebook Artikel ebensolcher verfolgt – dem kann nicht verborgen bleiben, dass sich in der Sprache der Freiheitlichen ein ungewöhnlicher Wandel vollzieht.
Über Jahrzehnte – nein, schon Jahrhunderte – galt es für den Freiheitlichen als Selbstverständlichkeit, sich selbst als „liberal“ zu verstehen. Der freiheitliche Freigeist, so wie er sich einst im Badischen artikulierte und zu einem Träger der bürgerlichen Revolution von 1848 wurde, war „der Liberale“. Nach unterschiedlichen, mal eher liberalen, mal eher bürgerlichen und mal eher nationalen Parteien während der Weimarer Republik formierte sich aus diesen Liberalen nach der Kapitulation Deutschlands eine politische Partei mit dem Namen „Freie Demokratische Partei“ – wobei die scheinbare Tautologie des „frei“ im Sinne eines staatspolitischen Bekenntnisses mit dem „demokratisch“ eine deutliche Abgrenzung von den libertären Philosophien jener Zeit dokumentierte. Wir werden darauf zurückkommen.
Die FDP stellte sich in eine große Tradition. Denker wie Immanuel Kant und Joe Locke hatten liberales Denken als das Primat der Vernunft und der individuellen Unabhängigkeit über obrigkeitsstaatliche Gängelung gestellt. Liberal war die konsequente Umsetzung dessen, was die europäische Aufklärung erst ermöglicht hatte: Die Überwindung kollektivistischer wie gottgegebener Philosophien durch den selbstbestimmten Bürger. Und eigentlich – so hätte man meinen sollen – hätte eine liberale Partei nach der Katastrophe der nationalsozialistischen Diktatur eine Partei sein müssen, die eine breite Mehrheit der geschundenen, aber scheinbar doch aufgeklärten deutschen Bevölkerung hätte ansprechen müssen.
Jedoch – die demokratischen Wahlen der Bundesrepublik der Nachkriegszeit zeichneten ein anderes Bild. Es dominierte die damals noch vom rheinischen Katholizismus geprägte Union ebenso wie die in den kollektivistischen Vorstellungen des Sozialismus verharrende SPD. Die FDP, die sich in ihrem Personal in den Anfangsjahren noch von dem einen oder anderen Personalrestbestand mit brauner Vergangenheit vertreten sah, etablierte sich – ganz liberal – zwischen diesen Protagonisten traditioneller Denkschulen als eigentliche Kraft des aufgeklärten Bürgertums. Lange Jahre fest an die kleinbürgerliche Union gebunden, fand sie in den sechziger Jahren den Weg zur zunehmend weniger kollektivistischen SPD. Und um diese Bereitschaft zur freien und unabhängigen Entscheidung zwischen den ewigen Blöcken der immer noch jungen Republik gegenüber dem Wähler zu dokumentieren, wurde das Kürzel „F.D.P.“ in den achtziger Jahren mit dem feststehenden Zusatz „Die Liberalen“ verknüpft. Die Freien Demokraten dokumentierten so ihren eigenen Anspruch nach Außen unwiderruflich als liberal – und wurden in ihrer Mitgliederstruktur zu einer Partei, in der Rechtsliberale, die sich in aller Regel als „Wirtschaftsliberale“ interpretierten, mit „Linksliberalen“, die sich eher wie der freiheitliche Flügel der ursprünglich kollektivistischen SPD präsentierten, um die Meinungshoheit rangen. Der nationalliberale Flügel – noch in den fünfziger Jahren bestimmendes Element der FDP – war zwischenzeitlich weitgehend in den Fährnissen der bundesdeutschen Geschichte entschwunden.
Gleichzeitig aber leiteten „die Liberalen“ mit ihrer Okkupation des Begriffs „liberal“ bei zunehmender Differenzierung zwischen Wirtschafts- und Linksliberalen eine Entwicklung ein, bei der dieser traditionsreiche Begriff zunehmend mehr seinen ursprünglichen Inhalt verlor. Denn liberal wurde zu einem Synonym für Unverbindlichkeit. Es konnte ebenso liberal sein, mit einer sich autokratisch gebärdenden Adenauer-Union zu kooperieren, wie mit den sich trotz aller Demokratisierung aus kommunistischer Tradition speisenden Sozialdemokraten um Herbert Wehner und Willy Brandt zusammenzuarbeiten. Die Liberalen brachten dabei nach dem traditionellen Vertreter Theodor Heuß mit einem Walther Scheel, der zwar nicht auf dem hohen Ross, dafür jedoch auf einem gelben Wagen sitzend seinen Führungsanspruch in die Welt sang, und Hans-Dietrich Genscher, dem mit den Ohren, der maßgeblich an der Neuordnung Europas im Zuge der Vereinigung von Bundes- und Deutschdemokratischer Republik beteiligt war, bedeutende Politiker hervor.
Unmerklich, aber fast unvermeidlich, verlor der Begriff liberal durch die parteipolitische Einvernahme seinen von Locke, Kant und anderen großen Denkern gespeisten, freiheitlichen Ansatz eines selbstbewussten, in Gegnerschaft zur Obrigkeit stehenden Bürgertums. Und ebenso unmerklich wurde nicht nur in den Medien, sondern selbst in den Reihen der FDP der verschwimmende Begriff des Liberalen durch einen anderen, scheinbar neuen Begriff ersetzt. Es galt spätestens nach der Regierungsübernahme des als Spaßpolitiker überzeichneten Guido Westerwelle zunehmend als freiheitlich, sich nicht mehr als liberal, sondern als libertär zu bezeichnen – in der irrigen Annahme, die von den sich mehr und mehr als Interessenvertretung kleiner Sponsorgruppen aus der Wirtschaft präsentierenden Freien Demokraten verinterpretierten Liberalität durch einen dem ursprünglichen Gedanken des Liberalismus unabhängig von einer als Klientelpartei wahrgenommenen politischen Gruppierung deutlich eher gerecht werdenden Libertarismus ersetzen zu können.
Wer als liberaler Denker fortan seinen freiheitlichen Ansatz in Wort und Schrift zu dokumentieren gedachte, ersetzte den traditionsreichen Begriff „liberal“ durch „libertär“. Libertarismus war der neue Liberalismus – nicht nur in internen Diskussionen, sondern auch in den Leitmedien der Republik.
Dieser Wandel ist jedoch nicht ohne Brisanz. Denn der europäische Libertarismus ist im seinem Ursprung deutlich weniger liberal als der Liberalismus. In den Denkschulen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts bis hinein in die Gegenwart steht libertär für eine spezifische Ausprägung der Anarchie. Anerkennt der Liberalismus die Notwendigkeit des Staates als Konstrukt der gesellschaftlichen Organisation in dem Maße an, wie dieser die Freiheit auf Selbstbestimmung des Individuums garantiert – womit er uneingeschränkt in der Tradition der bürgerlichen Revolution von 1848 steht -, so stellt der Libertarismus in seiner ursprünglichen Definition die Notwendigkeit des Staates an sich in Frage. Libertarismus strebt nach Überwindung staatlicher Ordnung durch die Einsicht in die Vernunft des Individuums bei gleichzeitig uneingeschränkter Verfügungsgewalt über das individuelle Eigentum.
Im positiven Sinne des anarchistischen Revolutionärs Bakunin ist Libertarismus das gewaltfreie Zusammenleben aller Individuen in einem überstaatlichen System, das – weil es von der Vernunft eines jeden Einzelnen getragen wird – auf Instrumentarien staatlicher Ordnung verzichten kann. Die Grenzen der Freiheit des Einzelnen definieren sich in der Freiheit des Anderen – was allerdings die vernunftbedingte Bereitschaft aller beteiligten Individuen voraussetzt, diese Einschränkung der eigenen Freiheit zugunsten der Freiheit anderer als selbstverständlich zu akzeptieren. Es ist unnötig darauf zu verweisen, dass dieses Idealbild einer Gesellschaft aus nicht nur vernunftbegabten, sondern auch vernünftig handelnden Wesen weit von jedweder Realisierungschance entfernt ist.
Im negativen Sinne organisiert der Libertarismus durch seinen uneingeschränkten Anspruch der Selbstverfügung über das Eigentum beim Fortfall der Bereitschaft, im Sinne des anderen „vernünftig“ zu handeln, eben genau jene Exzesse der Selbstbereicherung zu Lasten Dritter, mit denen sich das System politisch-wirtschaftlicher Verknüpfung von Staat und Schuldenfinanzierung in den vergangenen Jahren bis an den Rand der Selbstzerstörung gefahren hat.
Libertarismus fehlt, wenn man ihn aus liberaler Sicht betrachtet, nicht nur die soziale Selbstverpflichtung, sondern letztlich auch die gesellschaftliche Bodenhaftung. Wenn gleichwohl der Begriff des „libertären“ den Begriff des „liberalen“ zunehmend mehr ersetzt, dokumentiert dieses im Sinne der Weiterentwicklung der Gesellschaft eine zunehmende Abwendung vom Staat und seinen Institutionen, die allein für sich in einem Gemeinwesen schon problematisch ist und dessen langfristige Folgen nicht absehbar sind.
In der aktuellen Situation der Bundesrepublik allerdings ist dieser Wandel des Begriffes, der – unterstellen wir den Protagonisten seiner ursprünglichen Inhalte zum Trotz die Bereitschaft, die Gemeinschaft von Menschen auch künftig in einem Staatswesen zu organisieren – kurz- bis mittelfristig darauf hinauslaufen kann, den durch eine politische Partei vereinnahmten Begriff liberal in seinem ursprünglichen Sinngehalt durch libertär zu ersetzen – libertär wäre dann künftig das liberal der bürgerlichen Revolution. Das allerdings ist es historisch nie gewesen. So stehen wir vor einem tief greifenden Zerwürfnis zwischen jenen Vertretern der Politik, die sich den Begriff liberal angeeignet haben, und jenen sich als Intellektuelle verstehenden Personenkreisen, die sich als ehedem liberale Denker nunmehr als Vertreter einer postlibertären Denkschule definieren.
Es mag zu dieser Entwicklung beigetragen haben, dass sich die Vertreter des ehedem Linksliberalen in der liberalen Partei der Freien Demokraten zunehmend weniger zu Hause fühlen – so wie manch Vertreter eines reaktionär interpretierten Konservatismus mit seiner ursprünglichen Heimat Union hadert und die Sozialdemokraten Teile ihres marxistischen Unterbaus mit Oskar Lafontaine an die SED-Nachfolgepartei abgegeben haben. Während sich jedoch eine sich in Richtung Liberalismus öffnende Union eines zunehmenden Interesses ehedem bei den Grünen anzutreffender, libertärer Kräfte erfreuen kann und den klassischen Liberalen ohnehin eine neue Heimstatt zu bieten scheint, verlieren die bei den Freien Demokraten verbliebenen Wirtschaftsliberalen den Boden unter den Füßen. Die in seriösen Prognosen nunmehr seit Spätsommer 2010 die Fünf-Prozent-Marke zunehmend deutlicher verfehlende FDP hat ihre Verankerung in den sich liberal begreifenden Kreisen der Republik verloren. Was in dieser Republik einst die Speerspitze der Liberalität stellte, wird zunehmend libertär. Und es ist absehbar, dass dieser neue Libertarismus nach dem Entschwinden der Liberalen nichts anderes tun wird, als in die Fußstapfen der ehedem Liberalen zu treten – mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, sich als Totengräber des politischen Liberalismus zumindest vorerst vom Ruch der Klientelvertreter befreit zu haben.
© spahn/fogep 2013 / 21. April
Exzellentes Essay. Wir haben dazu diesen Link: https://huaxinghui.wordpress.com/2012/12/27/liberaler-faschismus/