Der nachfolgende Beitrag entstand 2011 im Auftrag einer bundesdeutschen Volkspartei. Er setzt sich mit der Zukunft der Volksparteien, der scheinbaren Alternativlosigkeit des „Merkelismus“ und der Neuorientierung in der Partizipation des Bürgers am politischen Prozess auseinander. Die Empfehlungen haben nichts an ihrer Aktualität verloren – ganz im Gegenteil scheint ihre Übernahme durch die Politik angesichts von außerparlamentarischen Widerständen und neuen Anforderungen an den Bürger gebotener denn je.
Das Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist eine Antwort auf die Frage, wie und unter welchen Bedingungen die bürgerlichen Parteien ihre künftige Orientierung organisieren müssen, um langfristig auf dem politischen Markt erfolgreich zu sein. Hierbei geht es nicht zu allererst um die Frage, wie man Wahlen gewinnt, sondern wie die bürgerlichen Parteien mit einer Betrachtung des „Selbstgewahrwerdens“ eine Positionsbestimmung aufgrund eines ideellen Fundamentes vornehmen können. Scheinbar zunächst nur eine Frage für die strategischen Denker in den Parteien, ergeben sich aus diesem Ansatz grundsätzliche Antworten auf einen Wandel von Politik in der demokratischen Gesellschaft. Diese Antworten sind auf Basis eines Wertesystem zukunftsorientiert zu formulieren, argumentativ zu unterlegen sowie dort, wo sich Diskrepanzen zwischen politischem Anspruch und gesellschaftlicher Realität aufzuzeigen scheinen, schlüssig zu begründen.
Vier Schlüsselfragen
Der Frage nach dem Wesen von Parteien „im Politischen“ (nach Eric Voegelin und in der rezeptionsästhetischen Formulierung nach Robert Weimann) steht als platonische Ableitung, als Gradient eines systemtheoretischen Unterbaus, vor der praktischen Umsetzung von Politik. Die Beurteilung des Politischen basiert auf der individuellen Beantwortung der Frage nach seiner systembefördernden oder systembehindernden Funktion – wobei dieser Beurteilung beim Bürger in aller Regel keine umfassende Analytik vorausgeht, sondern diese nach Anschein und Wahrnehmung erfolgt.
Der Bürger will folgerichtig von den Parteien vorrangig vier Fragen beantwortet bekommen:
| Steht eine Partei für das Wertesystem, das ich als mein eigenes verstehe?
| Garantiert eine Partei die Zukunftssicherung des gesellschaftlichen Konzepts, das auf meinem Wertesystem basiert?
| Ist eine Partei in der Lage, dieses auf meinem Wertesystem beruhende gesellschaftliche Konzept positiv in die Zukunft fortzuentwickeln?
| Verkörpern die Parteien meine aus der Beantwortung der vorangegangenen Fragen entwickelten Ansprüche glaubwürdig in der Sache und im Angebot ihrer politischen Persönlichkeiten?
Die Zustimmung zu Parteien durch den Bürger ergibt sich aus der in aller Regel unbewussten Bewertung in Folge der oben dargelegten Schlüsselfragen, wobei sich der Grad der Zustimmung zwischen null und einhundert bewegen kann. Die absolute Zustimmung zu einer Partei ist desto weniger zu erwarten, je breiter diese inhaltlich angelegt ist, während die deutliche Ablehnung von Parteien bereits dann eintritt, wenn die Antworten in Teilen negativ ausfallen.
Auf dieser Grundlage sind im nomativen Sinne durch die in den Parteien Verantwortlichen beständig konkret abzufragen
| Ihre Legitimität als quantitative, qualitative oder metaphysische Begründung des Parteihandelns.
| Die Repräsentation als Ausdrucksform und öffentliche Darstellung von Machtgestaltung.
| Der Einsatz von Symbolen und Mythen als Archetypen und Manifestationen zur Charakterisierung der Wertebasis.
| Die Kraft der Akteure als Verkörperung von Intention, Motivation und Technik.
| Die Strukturen der Partei als Garant der historischen und administrativen Ontogenese (Ontologie).
Hieraus ergeben sich unmittelbar drei grundsätzliche Themenbereiche, die strukturell angegangen und vermittelt werden müssen
| Die Strategie als grundsätzliche Zielplanung.
| Die Kommunikation als Weg der Vermittlung.
| Die Technik als Befähigung zur Umsetzung.
Genesis
Die Unionsparteien gründeten sich aus der unmittelbaren Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur ab 1933 und des Krieges von 1939 bis 1945. Sie traten dabei in die Nachfolge der konfessionellen und der liberalen Parteien des Bürgertums der Weimarer Republik und erlangten in der Nachkriegszeit ihre standes- und konfessionsübergreifende Bedeutung aus dem gesellschaftlichen Konsens der allgemeinen Ablehnung des kommunistischen Weltbildes und seiner Staatspraxis östlich der Elbe.
Der Kampf der Systeme, der sich zwischen dem marktwirtschaftlich orientierten Mehrparteiensystem der BRD und der staatswirtschaftlich orientierten Ein-Parteien-Führung der DDR darstellte, hatte seine Ursache in der sich unmittelbar nach Kriegsende herauskristallisierenden, als Ost-West-Konflikt bezeichneten, globalen Auseinandersetzung zwischen den jeweiligen Führungsmächten. Dieser globale Konflikt spiegelte sich im Kleinen im geteilten Deutschland und überlagerte und bestimmte die Beziehungen zwischen den Teilrepubliken ebenso wie die innenpolitische Debatte.
Für die Wahlbevölkerung in der parlamentarischen Demokratie der BRD war die Welt entsprechend klar gegliedert: Auf der einen Seite die „Guten“ als Vertreter einer pluralistischen, liberalen und individualistischen Gesellschaft, vorrangig verkörpert durch die Unionsparteien und die FDP, auf der anderen Seite die „Bösen“ als Vertreter eines totalitären, antiliberalen und kollektivistischen Gesellschaftsmodells, vorrangig verkörpert durch die Parteien der extremen Linken bis hinein in die Sozialdemokratie. Die strikte Abgrenzung der bundesdeutschen Gesellschaft vom Gesellschaftmodell der DDR an der als unmittelbare Erfahrung gelebten Schnittstelle beider Systeme verengte den Fokus der politischen Beurteilung auf die Grundsatzfrage von „Freiheit statt Sozialismus“ (so der Wahlkampfslogan der Unionsparteien 1980) und sicherte den Unionsparteien eine breite Zustimmung bei den Wahlen und bis zum Ende der sechziger Jahre die Regierungsführung.
Ursächlich begründet durch die auf der Grundlage der Frankfurter Schule gebildeten „Außerparlamentarischen Opposition“ erlangte die durch ihre Regierungsbeteiligung in der „Großen Koalition“ vom Stigma des Linksextremismus befreite SPD 1969 die Führung in der Regierung und organisierte mit der Parole des „Wandels durch Annäherung“ über die Ostpolitik eine erste Aufweichung der ideologisch begründeten Frontbildung. Dadurch befördert formulierte die unorthodoxe Linke über die Konzentration auf single-issue-movements, partiell insbesondere im von den traditionellen Parteien ausgeblendeten Aspekt der Ökologie, mit der grün-alternativen Bewegung ein vom Stigma der Einparteiendiktatur befreites, aber auf den ideologischen Grundlagen des Sozialismus basierendes Gegenmodell, das Eingang in die parlamentarische Wirklichkeit der Bundesrepublik fand.
Mit der Auflösung des „Ostblocks“, verursacht durch die Implosion der Führungsmacht UdSSR, und dem erfolgreich, von den bürgerlichen Parteien gegen partielle Widerstände auch aus der Sozialdemokratie (Oskar Lafontaine) durchgesetzten Ziel der friedlichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten in der Bundesrepublik Deutschland, verlor der Konflikt der Systeme trotz über NATO-Mitgliedschaft scheinbar manifestierter Ausrichtung am Gesellschaftssystem der westlichen Führungsmacht schlagartig seine Bedeutung, ohne dass damit unmittelbar eine Neuorientierung von Parteien und Bürgern einherging. Insbesondere die CDU/CSU als Kraft des Bürgertums und traditionelles Bollwerk gegen den Sozialismus fand keine Antwort auf die Grundsatzfrage, welches Werte- und gesellschaftliches Zielsystem durch sie verkörpert wird. In der Folge sank seit den neunziger Jahren die Zustimmung durch die Bürger kontinuierlich: Die Partei verlor dabei nur marginal an konkurierende Gruppierungen, sondern entließ Wähler in die Nichtwählerschaft, die die Frage nach der Übereinstimmung zwischen eigenem Wertesystem und dem Angebot der Partei auch zuvor nicht mit einem unzweifelhaften Ja beantwortet hatten, ihre Wahlentscheidung jedoch über die Erwartung der systemischen Zukunftssicherung trafen. Da das gesellschaftliche System nicht mehr bedroht schien, geriet und gerät dieser Aspekt der Wahlmotivation zunehmend in der Hintergrund: Die Union hatte ihren dominanten Markenkern durch den Erfolg ihrer eigenen Politik verloren.
In der Folge brach sich auch in der Union selbst die Zerfaserung über wertesystemische Identifikationen Bahn mit der Folge, dass zuvor vom zentralen Markenkern überdeckte Konfliktpotentiale beispielsweise zwischen Konservatismus und Liberalismus, marktwirtschaftlicher und sozial verantworticher Schwerpunktsetzung sowie konfessioneller Rückbesinnung und laizistischer Staatsauffassung immer offener in der Vordergrund traten. Der alles verbinden sollende Markenkern verlagerte sich zunehmend mehr auf die Funktion eines pragmatischen, ausschließlich am Staatsinteresse als Gemeinwohl orientierten Politikverständnisses, das mangels konkreter Definition jedoch weder eine kollektive Zustimmung erzeugen konnte, wie es zuvor die unmissverständliche Positionierung im Konflikt der Systeme tat, noch als Alleinstellungsmerkmal einer unifique selling proposition ohne Unterbau für das Individuum dauerhaft tragfähig ist nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich in die Gefahr begibt, tagesaktuelle essentials mit Staatsinteresse zu verwechseln und über die damit zwangsläufig mangelhafte Vermittlung von politischen Grundsätzen und Prozessen die Bindung der Bürger im Sinne der vier Schlüsselfragen zu verlieren.
Partizipation und neue Kommunikationsformen
In Folge eines gestiegenen Bildungsniveaus, welches unter dem Begriff des „mündigen Bürgers“ vorrangig auch von den bürgerlichen Parteien formuliert und gefordert worden war, aber auch als Folge des Wegfalls der normativen Kraft der kollektiven systemischen Orientierung, entwickelte sich parallel zur Etablierung der grün-alternativen Bewegung als politische Partei ein kontinuierlich wachsender Anspruch der Bürger auf unmittelbare Partizipation am poltischen Prozess. Der in der Zeit der Auseinandersetzung der Systeme noch grundsätzlich als angemessen unterstellte Anspruch der Parteien, im Rahmen des repräsentativen Parlamentarismus einen Alleinvertretungsanspruch auf politische Willenbildung zu verkörpern, wurde zunehmend weniger akzeptiert. Statt jedoch neue Formen der Partizipation zu entwickeln, die den Bürger mittelbar und unmittelbar in den politischen Willensbildungsprozess einbinden, wurden unter dem Druck außerparlamentarischer Interessengruppen vorrangig traditionalistische Möglichkeiten wie Bürgerbegehren und Volksentscheid etabliert, die oftmals über überbewertete Minderheitenquoren und unzulängliche Kommunikationsangebote selbst im Sinne der Partizipation kontraproduktiv sind, weil sie politische Prozesse und Entscheidungsfindungen auf Schlagworte reduzieren und dadurch der single-issue-Option eher entsprechen als dem Anspruch, mit ihren Zielen und Forderungen dem Gemeinwohl zu dienen. Ursächlich dafür ist die Tatsache, dass diese Formen der Bürgerbeteiligung einer in der Sache häufig umfassenden und sachgerechten Information bedürfen, die in der Massendemokratie nicht unmittelbar leistbar ist.
Statt jedoch diesen Mängeln traditionalistischer Bürgerbeteiligung am politischen Prozess mit der Entwicklung neuartiger Kommunikationsformen der Partizipation zu begegnen, reduzierten sich die Parteien darauf, mit dem Versuch von Korrekturen an den Mängeln dieser Form der Bürgerbeteiligung ein untaugliches Verfahren zu manifestieren. Ursächlich hierfür ist wiederum nicht nur das Beharrungsvermögen der Politik im Festhalten am Monopolanspruch auf politische Willensbildung, sondern auch ein elitaristisches Selbstverständnis diejenigen, die über oftmals jahrzehntelange Teilhabe am parlamentarischen politischen Prozess allein über die Fach- und Sachkompetenz zu verfügen scheinen, um innerhalb der politischen Entscheidungsprozesse zu sachgerechter und deshalb im Sinne der pragmatischen Orientierung am übergeordneten Staatsinteresse „vernünftiger“ Beurteilung zu gelangen, womit sich unmittelbar auch eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem manifestiert, was als „Schwarmintelligenz“ definiert wird.
Eine weitere Ursache ist in der Erlernung eines politischen Diskurses zu finden, in dem sich der politisch Agierende als im wesentlichen nur mittelbar mit der Zielgruppe in Kontakt tretendes Objekt der Kommunikation begreift. Die politische Aussage bedarf der Transformation durch die Massenkommunikationsmittel, welche wiederum ihre Aufgabe darin sehen, den als subjektiv beurteilten Inhalt der politischen Aussage in ihrem Sinne zu objektivieren oder auch zu stilisieren mit der Folge, dass die Zielperson der Kommunikation nicht die Position der Kommunikationsquelle erfährt, sondern eine nach Intention und Beurteilung des Vermittelnden veränderte Botschaft erhält. Um in dieser auf die Vermittlung angewiesenen Situation mit ihren Kernaussagen bis zur Zielperson durchzudringen, bedient sich die Politik zunehmend mehr einer sachlich und inhaltlich verkürzten Kommunikation, die durch die Verkürzung von Begründung und Ziel in aller Regel selbst aktiv zur Simplifizierung der Komplexität von politischen Entscheidungsprozessen beiträgt. Das wiederum bestärkt bei der Zielperson den Eindruck, im politischen Akteur eine in der Sache unqualifizierte Person zu erkennen, der die Entscheidungskompetenz über politische Sachverhalte ebenso abgesprochen wird wie umgekehrt der Politiker nicht zuletzt auch deshalb, weil die Kommunikation in der Gegenrichtung ebenfalls vorrangig über Medientransformation verkürzt und simplifiziert wird, dem Bürger diese Kompetenz abspricht. Faktisch bewegt sich damit die Kommunikation zwischen Politik und Bürger in einem Teufelskreis sich beständig gegenseitig herabstufender Kompetenzzuweisung.
Zwei Problemfelder
Die Union steht somit vor zwei bedeutenden Problemfeldern, die ohne adäquate Lösung mittelfristig den Niedergang der Partei verursachen werden:
| Das Fehlen eines Markenkerns, der die Tragfähigkeit und Zukunfsfähigkeit der Partei im Sinne der vier Schlüsselfragen inhaltlich und personell verkörpert.
| Das Verharren in der Falle der auf Transformation angewiesenen Kommunikation.
Orientierung
Die Zukunft der Union als innerhalb des Parteiensystems stärkste Kraft wird maßgeblich davon abhängen, ob es ihr gelingt, die bestehende, pragmatische Ausrichtung auf das Staatsinteresse im Sinne des Gemeinwohls über die tagespolitische Anwendung hinaus mit der glaubwürdigen Beantwortung der Frage „In was für einem Land wollen wir künftig leben?“ zu verknüpfen.
Die Union benötigt das, was von manchen Pragmatikern als „Vision“ abgetan wird – was jedoch als Perspektive der Politik nichts anderes ist als die Entwicklung von identitätsstiftenden Staats- und Gesellschaftszielen, die sowohl den beharrenden, also situationssichernden, wie den kreativen, also weiterführenden, Ansprüchen und Vorstellungen der Bürger gerecht werden.
Die Frage, die zu beantworten ist, lautet: Wie definiert sich das künftige, bürgerliche Selbstverständnis in einer industrialisierten, urbanisierten und selbstbestimmten Gesellschaft der Zukunft und welche Rolle übernimmt darin die Politik? Leistbar ist dieses ausschließlich darüber, die Essenz bürgerlicher Wertebegriffe in eine mondäne und urbane Zukunftswelt zu übertragen. Hierbei gilt es, nicht nur die Vorstellungen und Befindlichkeiten der als Wahlbürger unmittelbar zu erreichenden Generationen aufzunehmen, sondern den Blick auf künftige Generationen zu richten und damit das Staatsinteresse als deutlich über die tagespolitische Anwendung hinaus glaubwürdig zu erweitern.
Der alternative Gegenentwurf wäre eine bürgerliche Politik, die in altkonservative Beharrung verfällt und damit zwar eine scheinbar zuverlässige Basis bedient und sichert, aber bereits unmittelbar ihre Mehrheitsfähigkeit verliert und bereits verloren hat. Die Vorstellung, auf der Basis einer solchen Politik breit in die Gesellschaft hinein zu wirken, ist angesichts der vier Schlüsselfragen illusorisch.
Partizipative Kommunikation
Die klassische Kommunikation der Parteien, die sowohl innerhalb der Organisation als auch gegenüber dem Bürger auf einem elitären Prinzip des „Appell – Senden – Annehmen“ basiert, wird in ihrer obrigkeitsstaatlichen Ausrichtung vom Bürger zunehmend weniger akzeptiert. Dieses gilt auch und insbesondere dann, wenn politische Entscheidungen als vorgeblich alternativlos bezeichnet und damit ein Nachdenken über Alternativen von vornherein als unnötig, wenn nicht gar unsinnig definiert wird. Dabei gilt: Nichts auf dieser Welt ist alternativlos. Die entscheidende Frage in der Politik ist vielmehr: Welche der Alternativen ist diejenige, für die ich mich als die „richtige“ im Sinne des Gemeinwohls entscheide – auch auf die Gefahr, dass sich die Entscheidung im Nachhinein als falsch erweisen sollte.
Alternativlose Politik schließt partizipative Kommunikation mit dem Bürger von vornherein aus. Sie bewegt sich damit auf einer Verständnisebene, die zunehmend weniger akzeptiert wird, denn sie impliziert ein Denkverbot, das gerade in gebildeten bürgerlichen Kreisen auf Widerspruch stoßen muss und sich damit unmittelbar gegen die eigentliche Zielgruppe bürgerlicher Politik wendet. Wenn es einen Wert der bürgerlichen Revolution von 1848 gibt, der uneingeschränkt Gültigkeit hat, dann ist es die Feststellung, dass nicht die Menschen für den Staat da sind, sondern der Staat für die Menschen. Dieses impliziert neben dem Anspruch auf Partzipation als Teihabe am Prozess der politischen Entscheidungsfindung die Erwartung nach Transparenz von politischen Entscheidungen und damit die Sicherung der dienenden Funktion von Politik.
Professionalisierung von innovativer Politik
Politiker ist kein Lehrberuf. Das Handwerkzeug der politischen Arbeit wird in der demokratischen Gesellschaft nicht organisiert vermittelt, sondern autodidaktisch nach dem Prinzip des „trial and error“ erworben – gern mit der etwas fatalistischen Floskel „wem Gott gibt ein Amt, dem gibt er auch Verstand“ umschrieben.
Dieses Verfahren bringt es mit sich, dass die Methodik des Beobachtens und Übernehmens als zweckmäßigstes Konzept politischen Erfolgs – oder besser: Karriererfolgs in der Parteihierarchie – erkannt wird.
In der Konsequenz erinnert das Ergebnis an jene Beobachtung, die die Verhaltensbiologie bei Schimpansengruppen gemacht hat: Innovative technische Fortschritte der Heranwachsenden werden deshalb nicht übernommen, weil die Führung der Gruppe diese Fortschritte ohne Prüfung verwirft und die Masse der Gruppenmitglieder sich an der scheinbar erfolgreichen Führung orientiert. Das Ergebnis ist die kulturelle Stagnation, die in einer stabilen Umwelt das Überleben der Gruppe uneingeschränkt sichert, in einer sich wandelnden Umgebung oder auch angesichts unbekannter Bedrohungen jedoch das genaue Gegenteil bewirkt.
Übertragen auf menschliche Gruppen – wozu auch Parteien zu zählen sind – kann dieses zu folgenden Konsequenzen führen
– Die jeweils bestimmende Gruppe ist im Sinne des Erfolges ihrer Vorgängergeneration ebenfalls erfolgreich, aber außer Stande, auf neue Anforderungen erfolgversprechend zu reagieren.
– Die Gruppe isoliert kreativen Sachverstand und drängt ihn durch ablehnende Interaktion aus derselben mit der Konsequenz, dass die Nachfolgegenerationen zwar jeweils im Sinne der Führung erfolgreich funktionieren, aber von eben deren Makel der beharrenden Anpassungsverweigerung geprägt sind.
– Die darauf basierende Unfähigkeit der Gruppe, auf sich ändernde Umweltbedingungen angemessen zu reagieren, drängt die stagnierende Gruppe selbst beharrlich aus ihrem existentiellen Erfolg: Sie stirbt als Irrweg der Evolution aus. Im konkreten Beispiel sei in diesem Zusammenhang auf die FDP verwiesen, deren Beharrungsvermögen ihrer Führung an Positionen, die durch äußere Entwicklungen grundsätzlich auf den Prüfstand hätten gestellt werden müssen, die Partei an den Rand der existientiellen Bedrohung gebracht hat.
Dennoch sind politische Parteien in der Demokratie nicht uneingeschränkt mit Schimpansengruppen zu vergleichen, da zum einen die Führungsstrukturen breiter und pluralistischer angelegt sind und zum anderen selbstreinigende Korrektive eine größere Durchlässigkeit für Ideen ermöglichen.
Auch sollte nicht verkannt werden, dass das oben zitierte, verhaltenbiologische Beispiel eine inhärente Rechtfertigung hat: Die Bewahrung der Gruppe vor dem inneren Verfall dadurch, dass zahlreiche ihrer Mitglieder radikalen Neuerungen nicht folgen können und wollen und damit ihre Gruppenidentität nachhaltig gestört würde. Das Verhalten der Alphatiere ist vorrangig auf das Ziel des Erhalts der Gruppenidentität orientiert auch auf die Gefahr, darüber als solche nicht erkannte, überlebensnotwendige Innovationen vorsätzlich zu verhindern.
Was bedeuten nun diese Überlegungen in ihrer Konsequenz für den Erfolg oder Misserfolg von Parteien?
Partei als Experimentierfeld
Zum einen gilt es im Sinne der Aufrechterhaltung der Bindung an die Partei, die Parteiidentität als solche zu bewahren. Die Partei muss auf ihren manifesten Grundwerten agieren und diese im Zweifel unterhalb zeitgeistlicher Strömungen als Fundament ihrer gesellschaftlichen Ausrichtung definieren.
Zum anderen jedoch muss die Partei sich selbst als Experimentierfeld für neue Ideen begreifen – und dieses gilt grundsätzlich auch für Ideen, die in scheinbarem oder tatsächlichem Widerspruch zur Parteiidentität zu stehen scheinen. Wo, wenn nicht in den Parteien, wäre der Ort, die Weichen für die Zukunft einer demokratischen Gesellschaft zu stellen, in der Tradition und erfolgreich erprobte Politikmodelle die Verbindung mit kreativen Impulsen und Auffassungen eingehen? Maßgeblich ist, das Wertesystem als Basis einer offenen und flexiblen, evolutionären Entwicklung zu begreifen und einzusetzen.
Sollten sich die Parteien hingegen diesem Prozess verweigern, so wird dieser zwangsläufig ausserhalb der Parteien stattfinden und an den Parteien vorbeigehen. Die Entwicklung der alternativ-grünen Bewegung zur Partei hat einen derartigen Prozess in den vergangenen dreissig Jahren dokumentiert.
Bürgerpartizipation
Die Partei als Experimentierfeld kann eine neue Attraktivität für den Bürger entwickeln. Angesichts der über Jahrzehnte der Entfremdung tief verankerten Ablehnung von Parteiarbeit werden zahlreiche Bürger einem ausschließlich innerparteilichen Prozess jedoch skeptisch gegenüber stehen. Die Parteien sind daher darauf angewiesen, sich der Bürgerpartizipation zu öfffnen.
Dieses bedeutet in einem ersten Schritt, das klassische „Appell – Senden – Empfangen“ durch ein „Appell – Vorschlagen – Reaktion veranlassen“ zu ersetzen. Die Parteien müssen sich von der Vorstellung lösen, in der beständig komplexer und komplizierter werdenden Welt auf jede auch kurzfristig auftretende Anforderung eine perfekte und unumstößlich richtige Anwort zu haben. Sobald die Partei jedoch Foren schafft, die nicht vorrangig der als Bekehrung empfundenen Implementierung vorhandener Positionen dienen, sondern politische Themenfelder einer offenen und unvoreingenommenen Beschäftigung überstellen, an deren Ende ein den Diskussionsprozess und das Diskussionsergebnis berücksichtigendes Ergebnis als weiterentwickelte Position der Partei steht, kann die Entfremdung zwischen Partei und Bürger abgebaut und überwunden werden.
Unabdingbar dafür ist die Bereitschaft der Politik, den Bürger auf der Ebene der Kommunikation nicht nur als gleichberechtigten, sondern auch als gleichwertigen Partner zu akzeptieren: Es gibt keinen „natürlichen“ Erkenntnisvorsprung der Politik gegenüber dem Bürger, es gibt bestenfalls einen Kenntnisvorsprung – und es ist die Aufgabe des Politikers, diesen Vorsprung durch Vermittlung von Kenntnis abzubauen. Das tatsächliche Ziel dieses Vorgehens ist es, Politiker und Bürger als Partner mit dem gemeinsamen Ziel der Fortentwicklung der gemeinsamen Sache Staat und Gesellschaft auf gleicher Ebene zusammen zu führen und so die empfundene Distanz zwischen den Vertretern eines scheinbar obrigkeitsstaatlich agierenden Politikapparats und dem von diesen von der politischen Partizipation ferngehaltenen Bürger zu überwinden.
Professionalisierung der politischen Praktiker
Die in diesem Prozess unvermeidbare Professionalisierung von Politik geschieht nicht von allein. Die Bereitschaft des „Politikers“, den Bürger mit allen ihm möglicherweise unterstellten politischen Kenntnisdefiziten als gleichwertigen Partner zu begreifen, macht insbesondere auf kommunikativer Ebene den Einsatz von professionellem Training unumgänglich. Der bürgerliche Politiker der Zukunft wird sich weniger als Kämpfer seiner Partei, sondern als Vermittler zwischen Bürger und Partei begreifen müssen. Er ist nicht mehr Missionar in Sachen „richtige“ Politik oder ideologisches Bollwerk gegen „falsche“ Politik, sondern Transmissionsriemen zwischen politischer Arbeit und Bürgerinteresse. Dieses setzt voraus, dass er sich Möglichkeiten organisiert, von den Transmittern, auf die er bislang angewiesen ist, zu lösen und die Kommunikation von der Mittelbarkeit auf die Unmittelbarkeit zu verkürzen.
Umsetzung intern
Während auf Bundesebene der professionelle Apparat der Parteien oftmals wenn auch nicht immer Fehler verhindern kann, ist dieses auf den Ebenen der Länder und in der Kommunalpolitik deutlich schwieriger.
So wird in Folge des zwangsläufigen, autodidaktischen Ansatzes von Politik nicht selten Dilettantismus mit Programmatik verwechselt oder die Programmatik durch diesen verwässert oder individuell konditioniert. Die Partei bietet, je breiter sie sich in der Gesellschaft anlegt, desto mehr Raum für die individuelle Interpretation dessen, was als inhaltliches Fundament zu begreifen ist.
Intern empfiehlt sich daher ein als open range angelegtes Verfahren, in dem von unten nach oben ein inhaltliches und thematisches Zusammentragen von Grundwerten und Zielvorstellungen angestoßen wird, welches durch ein von den Entscheidungsgremien der Partei legitimiertes Redaktionsgremium einen einheitlichen Guss erhält und konträre Positionen alternativ in die Diskussion gibt. Die Partei wird über dieses Verfahren von einem starren, von Vorgängergenerationen geprägten Monolith zu einem lebendigen Organismus gewandelt. Im Ergebnis entwickelt dieses Verfahren in der Zusammenführung von beharrenden Kräften und Veränderungswillen das Modell einer Mitgliederpartei im eigentlichen Sinne, die über einen transparenten, partizipativen Diskussionsprozess auf einem von den Mitgliedern mitgetragenen weil von ihnen entwickelten Fundament den Raum bietet, über den nächsten Wahltermin hinaus wirkende, gesellschaftliche Zielperspektiven zu entwickeln.
Die dauerhafte Implementierung eines derartigen Verfahrens beispielweise über einen Fünfjahresrhythmus sichert die regelmäßige Beschäftigung der Mitglieder einer Partei mit ihrer Parteiidentität und sendet darüber hinaus an den nicht-parteigebundenen Bürger das Signal, sich durch den Beitritt nicht in ein vorgegebenes Korsett zwängen zu müssen, sondern selbst Teil eines kontinuierlichen, politischen Prozesses im Sinne der Fortentwicklung der Gesellschaft werden zu können.
Die latente Frage, wer eigentlich die Inhalte einer Partei bestimmt und ob dieses im konkreten Fall der Union immer noch Adenauer und seine im Denken des frühen zwanzigsten Jahrhunderts verfangenen Partner sind, wird damit obsolet. Die Parteiverweigerung mit der Begründung, man müsse sich mit dem Beitritt in ein Parteienkorsett zwängen, verliert an Bedeutung in dem Moment, wo die Partei als lebendiger Organismus wahrgenommen wird.
Ein weiterer positiver Effekt dieses Verfahrens ist die Organisation inhaltlicher Verbundenheit der Mitglieder oder – um es anders zu formulieren – die Überwindung des Gegeneinanders unterschiedlicher Strömungen. Ein transparenter, partizipativer Diskussionsprozess ermöglicht es jedem Mitglied, seine individuellen Vorstellungen einzubringen. Es obliegt seiner Überzeugungskraft und der Kraft seiner Argumente, die von ihm präferierten Inhalte zu den Kernelementen der Partei zu machen. Ein mögliches Scheitern in diesem Versuch wird jedoch nicht mehr in die Verantwortung „der da oben“ gestellt werden können, sondern als Ergebnis eigenen Unvermögens oder im Zweifel auch der persönlichen Fehlentscheidung bei der Parteienwahl betrachtet werden müssen. Da jedoch die Erfahrung in open-range-Diskussionen zeigt, dass allein die gleichberechtigte Teilhabe am Entscheidungsfindungsprozess nicht nur den partiellen Einzug eigener Vorstellungen in das Ergebnis bewirkt, sondern durch den Meinungsaustausch das Mehrheitsergebnis als gemeinsamen Kompromiss organisiert, ist die Gefahr einer Totalablehnung eher gering. Vielmehr steht zu erwarten, dass auch der Unterlegene den gemeinsamen Kompromiss mitträgt, weil er sich zutreffend als Bestandteil des errungenen Ergebnisses begreift.
Das derzeit in der Regel angewandte Verfahren über in kleinen Zirkeln entwickelter Diskussionsvorlage und darauf basierender Programmdiskussion verfestigt hingegen nicht nur den Eindruck der Intransparenz, es verengt auch die Partizipation weitestgehend auf die Kritik und die marginale Ergänzung. Es ist im Sinne der Verhaltensbiologie das Konzept des Alphatieres, das um der Ruhe in der Gruppe willen geringfügige Mitsprache duldet, den Zielrahmen jedoch bereits vor der Gruppenbeteiligung festgesteckt hat.
Das Ergebnis spiegelt folgerichtig nicht die Breite der Mitgliedschaft, sondern das Wollen einer Parteielite, die der Mitgliedschaft eine zeitweilige, eingeschränkte Mitsprache eingeräumt hat. Dieses „Programm“ bleibt somit immer ein Vorstandspapier, dessen Identifikationsanamnese sich als Diktat einem breiten Zugang verweigert. Die notwendige Konsequenz ist allen Parteiarbeitern leidlich bekannt: Derartige Papiere verschwinden nach Beschluss in aller Regel schnell in den Archiven der Partei, bis eines Tages ein anderer Vorstand beschließt, dass es wieder einmal so weit sei, vorrangig sich selbst damit zu beschäftigen, der Partei eine neue programmatische Ausrichtung zu geben.
Parteiführungen neigen dazu, das hier als open-range-Verfahren empfohlene Vorgehen als „unpraktikabel“ und „wenig zielführend“ abzulehnen. Beides ist in der Sache unkorrekt, da die Praktikabilität ausschließlich eine Frage der Organisation ist und die Zielführung maßgeblich von der Definition der Zielsetzung abhängt. Wenn es wie hier dargelegt das Ziel ist, eine Partei als Mitgliederprozess zu begreifen, ist hingegen jeder andere als der hier aufgezeigte Weg wenig zielführend. Wenn es allerdings das Ziel ist, den Mitgliedern Korsettstangen einzuziehen und die Zustimmung zur Partei damit inhaltlich einzuschränken, ist die Beurteilung zutreffend.
Faktisch jedoch sollte letzteres nicht unterstellt werden. Vielmehr ist in solchen Parteiprozessen tatsächlich der grundsätzliche Wille zu erkennen, eine Art der Mitgliederbeteiligung zu schaffen, die jedoch aufgrund mangelhafter Instrumentarien am Ziel vorbeigeht. Insofern dürfte die Skepsis der Führung eher darauf zurückzuführen sein, dass die transparente, partizipative Diskussion eine Teilaufgabe erworbener, eigener Privilegien einfordert. Die Möglichkeit, selbst die Eckpunkte der Parteiinhalte zu bestimmen, wird unbewusst als angemessene Belohnung für das erfolgreiche Beschreiten der parteiinternen Karriereleiter begriffen und das open-range-Verfahren als Risiko einer möglichen Fremdbestimmung abgelehnt. Die Wasserscheide liegt insofern tatsächlich in der Grundsatzentscheidung, ob eine Partei als von den Mitgliedern gestalteter Organismus begriffen oder als Herrschaftsinstrument einer Parteielite interpretiert wird.
Umsetzung extern
Die zum internen Vorgehen der Parteien dargelegten Überlegungen gelten umso mehr in der Kommunikation zwischen Partei (und damit „dem Staat“) und seinen Bürgern. Eine transparente, partizipative Diskussion über die Zielausrichtung der Gesellschaft findet faktisch nicht statt. Vielmehr befindet sich das Interaktionsfeld derzeit im Wesentlichen auf der konfrontativen Ebene von politischem Beschluss und bürgerlichem Widerstand. Am Ende setzt sich derjenige durch, der den größten öffentlichen Druck erzeugt oder – siehe die wechselnden Beschlusslagen zum Atomausstieg – als Machtfaktor zur Beschlussfassung berechtigt scheint.
Dieses Vorgehen schließt nicht nur die Partizipation des Bürgers am politischen Prozess weitgehend aus, es organisiert auch eine beständige Konfrontation zwischen Regierenden und Regierten. Was sich in einer autokratischen Gesellschaft als revolutionärer Widerstand entwickelt, findet in der pluralistischen, freiheitlichen Demokratie seinen Weg im Entstehen neuer Bewegungen, wie es einst die Grünen gewesen sind. Die scheinbare oder tatsächliche closed-shop-Mentalität von Parteien in der Demokratie grenzt – ob gewollt oder ungewollt – Bevölkerungsgruppen vorsätzlich aus. Die Unmöglichkeit einer selbstbestimmten Teilhabe am politischen Prozess führt in der Folge einerseits zu systemisch problematischen Entscheidungen wie einer fehlgeleiteten „Bürgerdemokratie“ über Volksentscheid und Bürgerbegehren, andererseits zum zwangsläufigen Entstehen von neuen Parteien, die in Konkurrenz zu den Altparteien treten und diesen langfristig dann überlegen sein können, wenn sie die für ihr Entstehen ursächlichen Fehler der Altparteien überwinden.
Wollen sich die etablierten Parteien langfristig ihre Existenzberechtigung sichern, so werden sie an dem Weg einer Öffnung hin zur Bürgerpartizipation auch ohne Parteimitgliedschaft nicht vorbeikommen. Revolutionäre Prozesse sind nur dadurch zu vermeiden, dass evolutionäre Prozesse die erforderliche Entwicklung ermöglichen. Dieses bedeutet nicht zwangsläufig die Aufgabe der Parteienidee, sondern vielmehr eine Rückbesinnung auf ihre Ursprünge als Zusammenschluss im wesentlichen gleichgesinnter Bürger mit dem Ziel, gemeinsam als richtig erkannte Gesellschaftsziele voranzubringen.
Partizipation ist im eigentlich Wortsinn als Teilhabe am Entscheidungsprozess zu begreifen, nicht aber als Ersatz für den Beschluss selbst. Orientiert am Energieforum des Bundesministeriums für Bildung und Forschung empfiehlt sich ein Vorgehen über themenbezogene Foren, die unter dem Arbeitstitel „Zukunftswerkstatt“ Schwerpunktsetzungen vornehmen, ohne dabei die jeweilige Grundlage selbst in die Diskussion zu geben.
Im folgenden soll anhand zweier Themenfelder aufgezeigt werden, wie Partizipation konkret stattfinden kann. (Anmerkung: Ein konkretes Tableau zahlreicher konkreter Fragestellungen folgte im Anhang an die hier vorliegende Einführung. Sie soll, da auf eine spezifische PPolitiksituation maßgeschneidert, im Rahmen dieser Veröffentlichung nicht präsentiert werden.)
Beispiel 1: Zukunft eines Wohnstandortes
Es ist die Investoren-Entscheidung darüber gefallen, an einem Standort X einen Schwerpunkt des Wohnungsbaus zu errichten. Die Entscheidung selbst wird nicht infrage gestellt. Die Bürgerpartizipation dient dem Ziel, sämtliche Anregungen, Wünsche und Bedenken zu diesem Projekt zu sammeln und diskursiv in die Umsetzung einfließen zu lassen. Hierbei erhalten die Bauträger die Möglichkeit, ihre Vorstellungen zu präsentieren ohne dieses als unabänderlichen Beschluß zu manifestieren. Die transparente, partizipative Diskussion ermöglicht es dem Bürger, sich über das Einbringen eigener Vorstellungen mit dem Projekt zu identifizieren. Sie ermöglicht dem Träger die Offenlegung und inhaltliche Begründung von möglicherweise einschränkenden Voraussetzungen bis hin zum Anspruch einer angemessenen Wertschöpfung. Sie ermöglicht es nicht zuletzt den politischen Vertretern, die Rahmenbedingungen transparent zu machen und gerechtfertigte Bürgerwünsche in die politische Projektbegleitung einzubinden. Dieses Verfahren weicht deutlich von den derzeitigen öffentlichen Anhörungen ab, da es an die Stelle der Vorstellung eines Beschlusses ein offenes Verfahren setzt. In der Partizipation besteht die Möglichkeit, singuläre, gegen das Projekt gerichtete Einzelinteressen als solche zu identifizieren und den Gemeinwohlaspekt im Bewusstsein der Beteiligten zu implementieren.
Beispiel 2: Zukunftsfeld Unsere Stadt
Abstrakter weil nicht unmittelbar auf eine konkretes Projekt bezogen und deshalb ergebnisoffen gestaltet sich das open-range-Verfahren bei Grundsatzfragen zur künftigen Gestaltung der Gesellschaft. Am Beispiel Hamburg als Synonym für eine Metropole können unterschiedliche Fragestellungen in das Verfahren eingebracht werden, von denen fünf beispielhaft und beliebig erweiterbar aufgeführt werden:
| Will die Stadt weiter wachsen oder ihr Wachstum begrenzen. Welche Instrumentarien der Steuerung wären ggf. einzusetzen?
| Begreift sich die Stadt als Dienstleistungsmetropole, als Industriestandort oder als Forschungs- und Kreativzentrum? Ist eine Schwerpunktsetzung sinnvoll oder sichert die Vielfalt die Prosperität der Stadt?
| Dient der Hafen der Standortsicherung oder muss sich die Stadt umorientieren und neue Geschäftsfeldschwerpunkte entwickeln?
| Welche sozialpolitischen Ziele werden als erstrebenswert erachtet?
| Welche Rolle spielt die Sicherung des Universitätsstandortes?
In allen Fällen sind die Konsequenzen und folglich die politisch zu setzenden Ziele und Aufgaben der jeweiligen Entscheidung zu ermitteln. Ist der Bürger bereit, mit diesen Konsequenzen zu leben oder schränken sie seine individuellen Lebensentwürfe unzumutbar ein? Welche Möglichkeiten werden im Einzelnen empfohlen, um die Einschränkungen akzeptabel zu gestalten?
Im Sinne eines partizipativen Prozesses wäre es theoretisch vorstellbar, dass die Ergebnisse jedes Diskussionsforums konträr zur Position der Partei oder im Widerspruch zum Gemeinwohl stehen. Faktisch ist eine solche Situation jedoch dann nicht zu erwarten, wenn das Forum als Marktplatz der Ideen gestaltet wird, in denen Ursachen und Konsequenzen transparent vermittelt werden. Und sollte es wider erwarten dennoch so sein, so müsste sich die Politik die Frage nach ihrer Legitimation stellen.
Tatsächlich jedoch ist davon auszugehen, dass es zu sachorientierten Diskussionen kommt, in denen die Partei sich nicht als Vertreter „ihrer“ oder abstrakter Staats-Interessen, sondern als Vertreter des Gemeinwohls versteht. Es bleibt ihr unbenommen, im Zweifel auch mit dem Risiko einer Minderheitenposition ihre Grundsätze zu vertreten. Es ist ihre Aufgabe, dieses nicht als „alternativlosen Sachzwang“ zu behaupten, sondern die argumentative Grundlage ihrer Position zu verdeutlichen und zu vermitteln.
Das Ergebnisprotokoll des open-range
Im Ergebnis eines jeden open-range-Verfahrens steht ein Ergebnisprotokoll, in dem die Kerninhalte des Diskussionsprozesses transparent und nachvollziehbar ebenso aufgezeigt werden wie die sachlich und inhaltlich begründete Beschlussempfehlung einschließlich möglicher Abweichungsbegründungen für den Fall einer Nicht-Übereinstimmung zwischen Bürgerwollen und Politikempfehlung.
Ein solches Vorgehen setzt maßgeblich darauf, den Bürger über die Partizipation in die Entscheidung einzubinden. Es gibt ihm das zutreffende Gefühl, dass politische Entscheidungen nicht mehr über seinen Kopf hinweg getroffen werden und sich nicht auf die einmalige Abgabe von „Protestnoten“ in Form von Einwendungen beschränkt, sondern sich argumentativ in den Entscheidungsprozess eingebracht zu haben. Gleichzeitig ermöglicht es den politischen Begleitern des Prozesses, Sachmotivationen nachvollziehbar darzulegen – und es ist nicht zuletzt eine Einladung an den Bürger, sich aktiv in die Mitgliederpartei einzubringen. Die Partei wird über diesen Weg auf ihren grundgesetzlichen Auftrag zurückgeführt, wonach sie den Willensbildungsprozess nicht bestimmt, sondern über Mitwirkung (GG Art.21.1) aktiv initiiert und begleitet.
Den Autoren ist bewusst, dass dieses open-range-Verfahren für Parteiieliten ein emotionales Problem darstellen kann, da es die Bereitschaft voraussetzt, als angemessen betrachtete, eigene Priviligien zurück zu stellen. Es erfordert eine Umsteuerung des Selbstverständnisses des Politikers weg vom Agitator als Vertreter einer fest bestimmten Position hin zum Moderator zwischen dem Bürgerwillen und dem politisch Machbaren. Damit jedoch sichert er langfristig nicht nur die Verankerung „seiner“ Partei in der Bürgerdemokratie – er organisiert auch in einem auf Persönlichkeitswahl angelegten Wahlsystem die persönliche Zustimmung nicht mehr auf der Basis einer übergeordneten Parteipräferenz, sondern als Ergebnis der persönlichen Kommunikation mit dem Bürger. Das klassische Verfahren der „Bürgersprechstunde“ eines weitgehend passiven Wunschempfängers wird durch den aktiven, themenorientierten Austausch mit dem Bürger ersetzt.
Maßgaben und erste Schritte
Um den Weg hin zu der der transparenten, partizipativen Bürgerdemokratie zu gehen, ist einerseits eine Schulung der politischen Leistungsträger zu empfehlen. Sie müssen in die Lage versetzt werden, sich als gleichberechtigter Teil einer Diskussion zu verstehen und entsprechend zu agieren und darüber aus der Rolle des in die Defensive geratenden Agitators, die sie derzeit oftmals gezwungen sind einzunehmen, heraus zu kommen.
Weiterhin wird empfohlen, angesichts der über Jahrzehnte aufgebauten Ressentiments zwischen „den Politikern“ und „den Bürgern“ den ersten Schritt hin zu dem Bürger nicht unmittelbar durch die Partei erfolgen zu lassen. Den in den letzten Jahren in ihrer Bedeutung gesunkenen parteinahen Stiftungen wie im Falle der Union die KAS und/oder StaPoGe (Hamburg) kann in diesem Prozess die Rolle zuwachsen, selbst zum Transmitter zwischen Politik und Bürger zu werden, wenn sie auf der Basis des hier entwickelten Konzepts zur dauerhaften Plattform der Bürgerforen werden.
Für die Parteien hat das Zwischenschalten einer weitgehend unabhängigen Plattform darüber hinaus den Vorteil, dass ihre Vertreter unabhängig vom Veranstalter als tatsächlich gleichberechtigte Partner der Bürger auftreten können. Sie stehen im Zweifel nicht in der Pflicht, die Interessen der Plattform zu vertreten, sondern haben die Möglichkeit, auch wider diese zu argumentieren. Die Ergebnisse der Foren haben des weiteren für die Parteien keinen verpflichtenden Charakter – wobei durchaus die Empfehlung gilt, sich diese im Rahmen ihrer eigenen Arbeit weitestmöglich zu eigen zu machen, sie jedoch zumindest als ernstzunehmende Bürgerauffassung in die parteiinternen Diskussionsprozesse einfließen zu lassen.
Perspektive
Auf mittlere Sicht kann es den Parteien gelingen, über diesen Weg die Einheit zwischen Bürgerpartei und Bürgergesellschaft zu reanimieren. Die deutlich sichtbare Distanz zwischen „denen da oben“ und „denen da unten“ kann überwunden und damit der Bestand und Erfolg der Parteien als vom Bürger akzeptiertes Instrumentarium der Umsetzung eigener Vorstellungen und Ziele gesichert werden.
Voraussetzung ist die Bereitschaft der Parteienvertreter, sich diesem Prozess aus innerer Überzeugung zu öffnen und ihn nicht in der Macht der Gewohnheit als notwendiges Übel zu begreifen.
© 2011 FoGEP/Spahn
Autoren: Malte C. Dönselmann, Robert Gabel, Torsten Kurschus, Tomas Spahn