Liebe Wutbürger, liebe Medienmacher, liebe Politiker.

Es ist aktuell en vogue, über die GDL und deren Führer Claus Weselsky herzufallen.

Klar: Über Jahrzehnte hat man dem so gern motorisierten bundesdeutschen Kraftfahrzeugführer erklärt, dass sein Pendler-Egoismus nicht nur sein Portemonnaie über Gebühr belastet, sondern – viel schlimmer – eine bitterböse Umweltsünde ist. Deutschlands Otto N. hatte es irgendwann verstanden und sich seine Dauermonatskarte angeschafft, um in überfüllten Zügen morgens und abends den Weg zwischen unflexibel verortetem Arbeitsplatz und arbeitsplatzfernem Wohnort zu überwinden.

Und nun das! Eine Spartengewerkschaft wagt es, dieses umweltfreundlichste und deshalb vernünftigste aller Verkehrsmittel längerfristig lahm zu legen!

Das bietet selbstverständlich besten Anlass, über diese „wildgewordenen Gewerkschafter“ herzufallen, ihnen wie Julia Klöckner Verantwortungslosigkeit gegen das Gemeinwohl vorzuwerfen oder wie Michael Fuchs im Chor mit dem DGB-nahen Koalitionspartner nach einem Tarifeinheitsgesetz zu rufen.

Doch halt! Ist es denn wirklich dieser Dresdner Gottseibeiuns, der alles Übel dieser Welt auf unsere so gut ausgebauten Verkehrswege herbeiruft?

Denken wir doch bitte einmal rund zwanzig Jahre zurück. Und stellen wir uns folgende Fragen:

WENN der Betrieb der Bahn, wie beispielsweise Julia Klöckner behauptet, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe im Sinne des Gemeinwohls ist –

WENN unsere fein verzahnte Wirtschaft, wie Michael Fuchs es beklagt, auf einen reibungslosen und streikfreien Güterbahntransport zwingend angewiesen ist –

WENN also, wie unzählige Wutbürger, Meinungsmacher und Politiker derzeit konstatieren, der Bahnbetrieb in unserer hochentwickelten Industriegesellschaft einen derart hohen, dem Gemeinwohl verpflichteten Stellenwert hat –

DANN ist diese Bahn uneingeschränkt und in jeder Hinsicht eine hoheitliche Aufgabe.

DANN hätte man diese Bahn niemals privatisieren und beamtetes Bahnpersonal durch angestellte, streikberechtigte Mitarbeiter ersetzen dürfen.

DANN hätte man mit privaten Bahnkonkurrenzunternehmen, Fernbus- und Lastkraftwagensubventionierung niemals diesem Träger hoheitlicher Aufgaben die wirtschaftlichen Äste absägen dürfen, auf denen er sitzt.

DANN hätte man selbstverständlich auch verhindern müssen, dass Managerdarsteller wie jener fistelstimmige Kleinsanierer das ihre dazu beitragen konnten, die Hoheitsaufgabe Bahn an die Wand zu fahren.

Und nun, liebe Wutbürger, Medienmacher und Politiker, erinnert Euch: Es waren nicht die Lokführer, nicht die Zugbegleiter und nicht das Stellwerkspersonal, das die Deutsche Bahn mit Gewalt in die Privatisierung führen wollte.

Es waren Politiker aus allen staatstragenden Parteien, die der Meinung waren, dass die Deutsche Bahn nicht länger eine hoheitliche Aufgabe sei und deshalb dem freien Spiel der Kräfte des Marktes ebenso wie dem unvermeidbaren Konflikt zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen ausgesetzt werden könne.

Also beklagt Euch nicht!

IHR, die Wutbürger, habt jene Politiker gewählt, die die Bahn aus dem Segment der hoheitlichen Aufgaben herausgeschmissen haben.

IHR, die Medienmacher, habt jenen Politikern breite mediale Unterstützung gewährt, die den Ausverkauf deutscher Hoheitsaufgaben betrieben haben.

IHR, die Politiker, habt beschlossen, aus dem Staatsunternehmen Deutsche Bahn ein Privatunternehmen zu machen, dem – so ist das in der freien Wirtschaft nun einmal – das Gemeinwohl ein Fremdwort sein muss, denn es ist der Gewinnmaximierung verpflichtet und nicht irgendwelchen staatswohltheoretischen Philosophien.

Deshalb, liebe Wutbürger, Medienmacher, Politiker – wenn Ihr heute meint, mit dem Zeigefinger auf die Verantwortlichen für den aktuellen Weltuntergang zeigen zu müssen, dann stellt Euch vor den Spiegel. Denn die Verantwortlichen stehen dort.

Die GDL und ihr Vorsitzender tun lediglich das, wozu IHR sie verpflichtet habt, als IHR die Bahn privatisiert habt. Denn privat ist privat – und das geht die Politik nichts an, weshalb die Tarifautonomie bewusst als solche festgeschrieben wurde. Und es geht die Politik auch nichts an, wenn es sich dabei tatsächlich um ein Ringen um Einfluss innerhalb der Bahn AG handeln sollte – denn auch das ist in einem privaten Unternehmen zulässig und darf nicht durch sozialistische Tarifeinheitsgesetze behindert werden.

Also, liebe Wutbürger, Medienmacher und Politiker – entweder, Ihr findet Euch damit ab, dass die Bahn als privates Unternehmen auch ohne Eure Zustimmung bestreikt werden kann, und haltet Euch mit Euren völlig überzogenen, populistischen Angriffen gegen einen Mann zurück, der nichts anderes tut als die Interessen seiner Mitglieder zu vertreten, oder Ihr zieht die Konsequenzen und holt die Bahn zurück in das Segment der hoheitlichen Staatsaufgaben.

Denn beamtete Lokführer streiken nicht.

PS: Bevor ich es vergesse, liebe Wutbürger, Medienmacher und Politiker – stellt Euch schon einmal darauf ein. Das nächste aus der hoheitlichen Aufgabe entfernte Großunternehmen, das die Volkswirtschaft mit „gemeinwohlschädlichen“ Streiks überziehen wird, dürfte die Post sein. Was angesichts der Ausbeutung, die insbesondere Brief- und Paketzusteller zu ertragen haben, meiner uneingeschränkten Solidarität versichert sein kann.

© Tomas Spahn /FoGEP 20150505

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