Russlands Weg in die Katastrophe – Wem der Krieg gegen die Ukraine tatsächlich nützt

von Pawel Scheremet

 

Das Projekt „Neurussland” ist nicht abgeschlossen. Niemand von den Autoren und Inspiratoren dieses Katastrophenprojekts hat dran gedacht, sich davon loszusagen: Zu viel Geld und andere Dividenden bringt es ihnen.
Natürlich gibt es gar kein Neurussland in den von den russischen Imperialisten und orthodoxen Bannerträgern willkürlich gezogenen Grenzlinien, die Zeitschiene hat sich deutlich verschoben, der Preis für das Projekt ist mehrfach gestiegen, aber von seiner wahnsinnigen Idee hat man sich noch immer nicht losgesagt. Zwar hat sich in die Geschichte unerwartet das ukrainische Volk eingemischt, das es nach allen Kreml-Auslegungen weit und breit nicht geben dürfte – aber auch dieses peinliche Missverständnis hofft man noch auszuräumen.
Gegenwärtig findet im Kreml ein Kampf zweier Gruppierungen statt, die – um Hoffnungen zu zerstören – allerdings beide für den Krieg in der Ukraine stehen. Ich weiß gar nicht, wie man sie aufteilen soll: Die einen sind für den Krieg jetzt sofort und die anderen sind einfach nur für den Krieg. Im Kreml gibt es derzeit keine einflussreichen Kräfte, die sich für den Frieden mit dem Nachbarn einsetzen. Es ist, wenn man so will, ein Konflikt zwischen besessenen Imperialisten und rationalen Imperialisten.
Die besessenen Imperialisten treiben die Idee eines baldmöglichsten, vollumfassenden militärischen Vorstoßes in die Ukraine voran, fördern die Idee der Erweiterung der den Separatisten unterstellten Zone durch militärisches Vorgehen. Ihr Sprachrohr Girkin-Strelkow gab deshalb im November 2014 dem kremltreuen Sergei Dorenko für die russischen LifeNews ein über Tage gestrecktes Interview, in dem er unüberhörbar die Kriegstrommel schlug.
Er und jene, die ihn unterstützen, sind bereit, die Ukraine im Blut zu ertränken und ungezählte russische Leben für dieses „Neurussland” zu opfern. Der Einfluss dieser Gruppe ist sehr groß und sie werden sich auch durch den Winter nicht aufhalten lassen.
Die Gruppierung der rationalen Imperialisten, die von Anfang an einen weit umfassenderen Plan zur Krim, zum Donbass und zu diesem erfundenen Neurusslands hatte, verfolgt eine klassische Variante imperialistischer Politik: Angreifen und sich festsetzen – ein wenig zurückziehen und erneut angreifen.
Wer glaubt, dass Putin den Krieg um die Ukraine verliert und bereits alles zu Ende ist, dem empfehle ich, den Fakten ins Gesicht zu sehen. Und diese mit den Augen des russischen Präsidenten und seiner Berater zu betrachten.
Die Krim ist in der Gewalt Russlands. Der Großteil von Donbass wurde in eine verschanzte Festung verwandelt – ein Knochen im Hals der Ukraine und ein Brückenkopf für den nächsten Vorstoß. Natürlich hat Putin Kiew in zwei Wochen nicht eingenommen, obgleich er damit allen gedroht hatte. Er hat noch nicht einmal den strategisch wichtigen Hafen Mariupol besetzt. Aber seine umfangreichen Armeeeinheiten wurden ja bislang auch noch nicht eingesetzt. Nur ein paar taktische Truppen aus ein paar Bataillonen haben ohne die Unterstützung durch die Luftwaffe die ukrainische Armee zurückgeschlagen und die militärische Situation im Donbass zu Gunsten der russischen Kräfte entschieden. Also melden die russischen Generäle Putin Siege und keine Niederlagen.
Die regierende Elite Russlands betrachtet die Ukrainer nicht als gleichwertige Menschen und schon gar nicht als ein einheitliches, eigenständiges Volk. Die Vorstellung der Ukrainer als starke und geschlossene Nation ist jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Die Ukrainer werden verachtet. Alle Berichte in den russischen Medien, die sich mit der Ukraine beschäftigen, zeichnen ein Bild ukrainischer Habgier, Arglist und Feigheit.
So sehr die westlichen Sanktionen einerseits für Unruhe gesorgt haben, so erzeugen sie mit ihren Auswirkungen doch den Druck, schnell und konsequent zu handeln. Das Ziel ist definiert: Die Teilung der Ukraine – und dieses Ziel erscheint dem Kreml noch immer realisierbar. Vielleicht formuliere ich zu deutlich, aber ich vertrete die Auffassung, dass die bittere Wahrheit allemal besser ist als eine süße Lüge.
Ich bin überzeugt, dass wir derzeit einen kritischen Moment der Geschichte erleben. Russland und all seine Nachbarn sind an einer historischen Weggabel angekommen, die das Schicksal von Millionen Menschen und ganzer Völker verändern wird und bereits verändert hat. Niemand weiß wirklich, was morgen geschieht und in welcher Situation wir uns wiederfinden werden. Manche sind von einer Wiedergeburt der russischen Welt und der Renaissance des Russischen Imperiums überzeugt. Andere wiederum bezeichnen die Aggression gegen die Ukraine als das letzte Aufbäumen eines Imperiums, das die Möglichkeiten des Landes endgültig vernichten wird.
Ich versuche, mich in die Situation Putins zu versetzen, um die Logik seiner Handlungen zu verstehen. Was sind in diesem Gedankenspiel die Vorteile, die aus diesem Krieg für Putin und Russland zu ziehen sind? Ja, Putin scheint seine innenpolitischen Probleme gelöst zu haben. Die Zustimmung zu ihm ist in den Himmel geschossen. Aber das ist wie mit einem Drogenrausch, der immer noch eine und noch eine Dosis einfordert, um die Euphorie zu erhalten und nicht dem Cold Turkey zu verfallen. Einige Politiker und Marginal-Politologen konnten ihre persönlichen Positionen verbessern. Die Generäle leben ihre Tradition und bereichern sich am Krieg. Darüber haben sie sogar für den Moment die Kaukasier und Tadschiken vergessen. Die korrumpierten Beamten konnten durchatmen, denn kaum einer denkt noch an sie und ihre illegalen Pelzlagerhallen. Insofern gibt es Gruppen und Gruppierungen, die tatsächlich glücklich und zufrieden sind.
Was aber hat das russische Volk, hat der russische Staat davon?
Ich suche eifrig nach Vorteilen des russischen Angriffes auf die Ukraine – und ich finde keine. Es gibt keine Rechtfertigung für dieses Vorgehen. Und es wird für Russland auch kein glückliches Ende dieser Geschichte geben.
Vor zwei Jahren saßen wir im kalten Chanty-Mansijsk mit dem russischen Schriftsteller und Fernsehmoderator Alexander Archangelski zusammen. Alex hatte gerade einen weiteren Roman zu Ende geschrieben, in dem er in einer raffinierten künstlerischen Form die Zukunft des russischen Präsidenten beschrieb. Ich hatte damals darauf bestanden, dass Wladimir Putin mit hoher Wahrscheinlichkeit einen kleinen, siegreichen Krieg vom Zaun brechen werde. Er fühle sich vom Westen beleidigt, es schiene ihm, dass die Amerikaner Russland nicht respektierten und ihn als Präsidenten eines erhabenen Landes ebenso wenig, daher werde er versuchen, allen zu zeigen, was eine Harke ist – damit sie nicht allzu sehr abheben.
Schon damals waren wir uns einig gewesen: Wenn es zum Krieg käme, dann werde es ein Krieg um die Ukraine sein.
Ein Krieg gegen China werde uns zu teuer zu stehen kommen und Europa direkt anzugreifen mache keinen Sinn. Es werde ohnehin bald von allein einknicken, sich ein ukrainisches Stück abbeißen – all das passte wunderbar in die Strategie der Erschaffung der Eurasischen Union und in die ideologische Vorstellung davon, woher der Große Rus komme.
Ich bin dabei ausschließlich von psychologischen und wirtschaftlichen Überlegungen ausgegangen. Einerseits „steht Russland von den Knien auf”, wie es formuliert wird. Die russische Elite nimmt wieder Haltung an und wähnt sich als Vertreter einer Großmacht mit dem Anrecht, das Schicksal der Welt zu lenken. Gleichzeitig aber blieb da das hartnäckige Gefühl, dass die Welt Russland weder respektiere noch beachte. Da kaufen wir uns schon die Fußballweltmeisterschaft und finanzieren den Unterhalt verflossener Kanzler – und dennoch antwortet uns das verfaulte und verwesende „Gayropa” mit Verachtung!
Die Geschichtsprofessorin der Harvard University und Autorin des Buches „The Collapse: The Accidental Opening of the Berlin Wall”, Mary Elise Sarotte, hat zum 25. Jahrestag des Berliner Mauerfalls einen Artikel im „Guardian” über das psychologische Trauma veröffentlicht, welches Putin geprägt habe, als er beobachtete, wie seine sowjetische Welt auseinanderbrach und der für effektiv und stabil gehaltene deutsche Geheimdienst der DDR, die „Stasi” (Staatssicherheit), sang- und klanglos von der Erdoberfläche verschwand.
Die geheimen Unterlagen seiner KGB-Tätigkeit verbrennend und die tobende, revolutionäre Menge durch einen Schlitz im Vorhang beobachtend, erlebte Wladimir Putin einen derart heftigen emotionalen Stress, dass er von einer rücksichtslosen Hartherzigkeit gegen jegliche Revolutionäre und absoluter Schonungslosigkeit gegenüber allen, die er als Feinde Russlands wahrnimmt, geprägt ist.
Diese Erfahrung hat Putin zu einer leichten Beute für Manipulationen jener Kräfte gemacht, die die Welt durch das Prisma des sowjetischen Weltmodells und des darin verankerten Antiamerikanismus sehen. Die Karrieristen wie die Reaktionäre spürten den Schmerzpunkt des russischen Präsidenten auf und bedienten sich erfolgreich seiner Ängste.
Es gibt mehrere Gruppen, die ich als verantwortlich dafür sehe, dass wir uns alle nun am Abgrund wiederfinden.
Die erste Gruppe sind die Militärs und die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es in Russland keine Erneuerung der militärischen Elite. Auf den Schlüsselpositionen sitzen nach wie vor die Kommandeure der sowjetischen Epoche und jene, die von diesen erzogen wurden. Diese sind es, die die angebliche Bedrohung durch die NATO-Erweiterung nach Osten aufgeblasen haben, um damit unsere Kriegshandlungen gegen Moldawien und Georgien zu begründen.
So war zum Beispiel der Krieg in Transnistrien auch das Produkt eines Kampfes des russischen Militärs um gigantische Waffenlager, die sich dort befanden. Auf der Krim konnten die Generäle die Obrigkeit mit der Vorstellung von NATO-Stützpunkten verschrecken, die ihnen künftig den Zugang zu ihren geliebten Datschen am Meer verwehren würde. Ich vereinfache natürlich, aber der Geopolitik der russischen Generalität liegt immer in erster Linie ein eigennütziges Interesse zugrunde. Nachdem 2008 der Krieg in Georgien so glimpflich und aus russischer Sicht erfolgreich verlaufen war, wertete dieses die „Kriegspartei” deutlich auf.
Dem Militär gelang es, die politische Führung Russlands von der immensen Bedeutung der Krim als militärischem Brückenkopf zu überzeugen. Sie behaupteten hartnäckig, dass ungeachtet des Vertrages über die Stationierung der Schwarzmeerflotte in Sewastopol bis 2045 die Ukraine die russische Flotte aus der Krim hinauswerfen und der Schwarzmeerraum damit ungedeckt bleiben werde. Auch sei es nicht möglich, die kalkulierten 150 Millionen Dollar für einen neuen Marinestützpunkt in Noworossijsk zu aktivieren – und so weiter und so fort. Dass das Schwarze Meer im einundzwanzigsten Jahrhundert keinerlei militärischen Wert darstellt, weil es von einem Ufer zum anderen problemlos mit Geschossen überbrückt werden kann, bevorzugten die Generäle zu verschweigen. Sie wurden flankiert von den Waffenhersteller, die zu Zeiten des zweiten tschetschenischen Krieges und insbesondere während des Georgien-Krieges den schon vergessenen Geschmack lukrativer Rüstungsaufträge zu genießen gelernt hatten.
Darüber, dass seit 1991entlang der russischen Grenze in Osteuropa kein einziger NATO-Stützpunkt eingerichtet wurde und die Baltischen Staaten ebenso wie Polen auf ihre Armeen fast schon verzichtet hatten, weil sie nicht vorhatten, gegen irgendjemanden einen Krieg zu führen – davon hat man nicht gesprochen. Als Schreckgespenst diente das neue Raketenabwehrsystem in Europa. Man jagte es wie Geisterjäger durch das russische Bewusstsein: Ein Mittelrusse wusste bald mehr von diesem Raketenabwehrsystem als selbst der fortschrittlichste Amerikaner.
Statt auf eine Zusammenarbeit mit der NATO zu setzen, heizten die russischen Generäle hinter den Kulissen ebenso wie in der Öffentlichkeit den Konflikt mit der westlichen Allianz an. So erinnere ich mich gut an jenen General Leonid Iwaschow. Dieser Mensch hatte sein gesamtes Leben im Generalstab des sowjetischen Verteidigungsministeriums verbracht und war zum Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion Abteilungsleiter im Verteidigungs-ministerium. So schien sein perfekt durchorganisiertes, sowjetisches Leben nebst Karriere mit dem Zusammenbruch des Imperiums zu zerbrechen – doch der General krallte sich an der Macht fest und gab nie auf. Von 1996 bis 2001 war Iwaschow Vorsitzender des Amtes für internationale militärische Zusammenarbeit des Verteidigungsministeriums. Eine absurde Vorstellung: Er hasste den Westen und die NATO über alles und trug gleichzeitig die Verantwortung für die internationalen Kontakte der russischen Armee. Es gab keinen einzigen Tag, an dem er nicht irgendwelche „aggressiven Pläne” zu entlarven in der Lage gewesen wäre. Nach seiner Demission bezeichnete er 2006 denTod des früheren jugoslawischen Präsidenten Milosevic in Den Haag als „politischen Mord”. Als am 5. Dezember 2009 das Abkommen zwischen Russland und den USA über die Begrenzung der strategischen Angriffswaffen auslief, war das Nichtzustandekommen einer Folgevereinbarung für ihn „kein Drama”.
Schon am 10. Februar 2014 – in Sotchi feierte ein russischer Präsident seine olympischen Winterspiele – definierte Iwaschow als nunmehr Leiter der russischen Akademie für geopolitische Studien die Vorgänge in der Ukraine als „Krieg gegen Russland”, initiiert von der US-amerikanischen Administration mit dem Ziel, die Ukraine zu zerstören. Sein Interview mit der russischen Website „km.ru” liest sich wie das Handbuch dessen, was seitdem durch Russland umgesetzt wurde – nur mit dem Unterschied, dass Iwaschow all dieses Vorgehen als unmittelbar bevorstehende US-Handlungen beschrieb. Die russischen Generäle wussten ihren Lebensraum zu schützen, pflegten ihre Phantomschmerzen auf Kosten der Zukunft der friedlichen Russen.
Als Ergebnis wird es nun fünf neue NATO-Stützpunkte an der Grenze zu Russland geben. Das amerikanische Raketenabwehrsystem über Osteuropa wird Moskau keinesfalls mehr verhindern können. Aber die Generäle werden ohne mit der Wimper zu zucken das Geschehene als eine Bestätigung jener Szenarien darstellen, die sie als Gruselpropaganda in den vergangenen fünfzehn Jahren ausgemalt hatten. Endlich finden sie nun die Bestätigung ihrer kranken Träume von einer Panzerattacke gegen ein umzingeltes Russland.
Eine weitere einflussreiche Gruppe der verantwortlichen Lobbyisten des Krieges gegen die Ukraine sind die finanz-industriellen Staatsoligarchen. Dabei handelt es sich weder um Geschäftsleute noch um Beamte im Sinne einer aufgeklärten Gesellschaft. Es sind in sich geschlossene Biotope, daran gewöhnt, sich durch Eigentumsaneignung und Marktmonopolisierung expansiv zu entwickeln. Ihnen gibt ein Feldzug gegen die Ukraine die Ermunterung, ihren ohnehin schon kaum noch überschaubaren Vermögen neue, attraktive Errungenschaften hinzuzufügen.
Während der fetten Jahre versäumten diese Staatsoligarchen, ihre Reichtümer in Innovation und technologischen Fortschritt zu investieren. Auf den Weltmärkten sucht man vergebens nach neuen Produkten „Made in Russia” – nur Waffen und Rohstoffe in all ihren Formen waren und sind die Exportschlager. Also benötigt man noch ein paar mehr Waffenschmieden und natürlich noch ein wenig mehr Rohstoffe. In erster Linie handelt es sich dabei gegenwärtig um Gas. So überzeugte man den Präsidenten davon, dass die Krim unverzichtbar sei, um die „Südstrom”-Pipeline abzusichern und die Erdöl- und Gasreserven am Schelf zu erschließen. Interessenten für die Aneignung der ukrainischen Eisenhüttenwerke und der Betriebe des militärisch-industriellen Komplexes fanden sich genug.
Kacha Bendukidse, der die Sitten und Bräuche des neuen russischen Staatskapitalismus gut kennt, war überzeugt, dass die Oligarchen die militärische Aggression gegen die Ukraine aktiv unterstützen, wenn man ihnen einen Vorgeschmack auf großen Stücke der ukrainischen Torte gäbe, die ihnen mit der Intervention in der Ukraine in die Hände fallen würden. Im Mai 2014 erklärte Bendukidse, warum Russland ein Embargo auf die ukrainischen Waren einführen wird. Er lag vollständig richtig: „Es gibt eine große einflussreiche Lobby, die an einem Handelskrieg gegen die Ukraine interessiert ist. Es gibt Dutzende sehr einflussreiche Menschen, die den Kreml mit Vergnügen schmieren werden, um den russischen Markt für die ukrainischen Waren zu schließen. Die Metallurgen werden schmieren. Und ihnen wird Beifall geklatscht. Die Gießer werden applaudieren. Die Lebensmittelproduzenten werden laut Beifall klatschen. Die Chemiker werden jubeln. Welcher substantielle Export nach Russland bliebe der Ukraine dann noch? Die Menschen, die glücklich empfängliche Hände drücken, werden ‚ausgezeichnet‘ sagen – sie werden daran verdienen”.
Die Stimmen jener Oligarchen, die erhebliche Verluste durch die westlichen Sanktionen tragen müssen, gehen unter im Chor der Rohstoffmogule und pseudopatriotischen Geschäftemacher, die klammheimlich die westliche Konkurrenz aus Russland verdrängen. Stattdessen wird vor den Augen des Präsidenten mit dem russischen Huhn herumgefuchtelt, das selbstverständlich viel saftiger als das amerikanische ist. Sie fahren den russischen Panzer auf, der selbstverständlich viel robuster als jeder „Abrams” ist – seine Panzerung ist so dick, dass nicht einmal die Beamten durch sie hindurch finden …
Die Weigerung Frankreichs, die „Mistrals” auszuliefern – umso besser, denn diese „Mistrals” sind doch der letzte Dreck gegen das, was auf Russlands Werften zusammengezimmert wird.
Die dritte Gruppe der Verantwortlichen an der Katastrophe – das sind unsere notorischen Analytiker, die seit Jahren ungehindert und alternativlos auf ihrer propagandistischen Welle reiten.
So Michail Leontjew. Er gilt Russland als großer Philosoph. Natürlich ist er nicht ohne Talent, aber die Menge der Kakerlaken, die in seinem Kopf herumkriechen, übersteigt jede zulässige Norm. Der grelle Showman Sergei Dorenko hat zur Analytik überhaupt keinen Bezug, ist jedoch als Analytiker beständig in Fernsehen und Radio zu erleben. Sie haben ihren Herrschern nach dem Mund geredet und sie tun es noch immer, weshalb sie sich über Jahre auf dem Bildschirm gehalten haben und halten werden.
In jedem normalen Land kämpfen die Intellektuellen um ihre Meinungshoheit. Jedes Expertengutachten wird im Zweifel jemanden finden, der es widerlegt und eine Gegenposition aufbaut. In der TV-Show wird neben dem Obama-Vertreter sein eifrigster Gegner sitzen, und für jede CNN-Position wird man das Gegenteil bei Fox News finden. In Russland aber breitet sich der Riss zwischen Realität und der Interpretation der Kremlpropagandisten rasant aus. So hat Leontjew seit Jahren die Behauptung verbreitet, dass es ein Land wie die Ukraine überhaupt nicht gibt. Er verdiente sich damit seine Rente bei „Rosneft”. Die Halde seiner pseudoanalytischen Exkremente wird noch spätere Generationen beschäftigen.
Dorenko wiederum verfasste einen flammenden Aufruf zum Angriff auf die Ukraine – einschließlich des geballten Einsatzes aller Kräfte zum Vorstoß nach Kiew. Dieser Appell offenbart derart viel manische Besessenheit, dass ich schon beginnen wollte, Dorenko zu verdächtigen, dass es ihm nur darum ginge, Putin in eine Falle zu locken um sich auf diese raffinierte Art und Weise für irgendwelche früheren Kränkungen zu rächen.
Es gibt keinen Lichtblick. Ganz im Gegenteil. Seit dem Frühling 2014 hat man nach und nach die noch bestehenden, unabhängigen Informationsangebote im Internet gesperrt. Die zuvor noch halbwegs journalistisch tätigen Auslandssender wurden eiligst zu Instrumenten der Kremlpropaganda gleichgeschaltet. Im November 2014 gaben sie „Echo Moskaus” den Rest. Anschließend werden sie sich um die kleinen, noch tätigen unabhängigen Lokalmedien kümmern. Das Schweigen objektiver Analyse und sachlicher Information wird unsere Köpfe füllen – ein Schreien der Stille! Und dieser künstlich erzeugte Schlaf des Verstandes gebiert Monster.
Es wird nicht gelingen, diese Lawine der gesellschaftlichen Psychose aufzuhalten. Es sei denn, man fände noch rechtzeitig einen Ersatz für die allverschlingende Idee der Erhabenheit der russischen Welt im Kampf gegen den bösen Westen. Der kleine Rest der verbliebenen, noch nicht infizierten russischen Elite müsste dringend eine neue Idee kreieren. Eine Idee, die es Putin erlaubt, sein mühsam aufgebautes Bild des großen Vaters der Nation zu bewahren und dennoch sein Land vor der Konfrontation mit der zivilisierten Welt zu bewahren. Vielleicht wäre das große Werk, dass Putins Bild der Nachwelt retten könnte, nicht die Selbstvernichtung durch einen Krieg gegen die Ukraine und die vorgeblichen Monster des dekadenten Westen, sondern der vom Volk langersehnte und totale Krieg gegen die Korruption. Diesen Krieg im Inneren zu führen, dabei selbst auf Nawalnij und Nemzow zu verzichten – es wäre das Werk eines wirklich großen Staatsmannes.
Aber kann man einen Zug stoppen, bei dem die Bremsen versagt haben? Nein. Doch man kann den Versuch unternehmen, die Eisenbahnweichen umstellen. Auch wenn es angesichts der aufgewirbelten Zahnräder der Kriegsmaschinerie der entfesselten Furie des Neoimperialismus kaum eine Chance zu geben scheint, diesen Zug in ein sicheres Flussbett umzuleiten.
„Der Optimismus ist in jetzigen Zeiten eine ganz gewöhnliche Feigheit”, schrieb der deutsche Philosoph Oswald Spengler am Vorabend der Weltkatatstrophe. Vielleicht ist es so.

 

übersetzt von Irina Schlegel in der Bearbeitung der FoGEP

 

 

Zur Person

Pawel Scheremet (geboren 1971 in Minsk) ist ein weißrussischer Journalist und Dissident, der unter dem Diktator Lukashenko am eigenen Leib erfahren durfte, wie die Gleichschaltung in postsowjetischen Gesellschaften funktioniert. 1995 wurde das von ihm geleitete, kritische TV-Magazin „Prospekt” ersatzlos aus dem Programm gestrichen – eine Woche später sollte per Referendum über den Machtzuwachs des Präsidenten abgestimmt werden. Anschließend war Scheremet Mitherausgeber der regierungskritischen „Belarusskaya Delovaya Gazeta“ und arbeitete für die damals noch unabhängigen russischen Fernsehmedien.
Im November 1997 gehörte Scheremet zu den Sprechern der „Charta 97”, die eine Rückkehr zu Demokratie und Menschenrechten in Weißrussland einforderte. Nach einem inszenierten Zwischenfall an der Grenze zu Litauen wurde Scheremet mit seinem Kameramann zu zwei Jahren Haft verurteilt, nach Protesten des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin jedoch gegen eine symbolische Strafe von 15 US-Dollar auf freien Fuß gesetzt.
Bis Juli 2014 arbeitete Scheremet in Moskau für „Kanal 1 Russland”. Er verließ den Sender mit der Begründung, dass Journalisten in Russland mittlerweile zum Freiwild geworden seien.

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