Der Berliner als Verkehrsteilnehmer – ein alter Text – speziell für einen guten Freund als unterhaltsamer Lesestoff eingestellt …
Die Berliner sind die (fast) schlechtesten Autofahrer, die Sie in dieser Republik finden werden. Schlechter fahren nur noch die Potsdamer. Die wiederum nur von denen aus Potsdam-Land übertroffen werden. Also, Zugereister: Hab’ Acht!
Denn natürlich – wie das immer so ist mit Menschen, die etwas nicht können, es aber ständig machen: Die Berliner selbst sind natürlich fest davon überzeugt, daß sie unter Gottes Sonne die begnadetsten Kutscher überhaupt sind. Das verleitet sie beispielsweise dazu, Zugereisten generell und grundsätzlich zu zeigen, wie man richtig Auto fährt. Fahrzeuge mit Nicht-Berliner-Kennzeichen (aber nicht nur die) werden rücksichtslos überholt, geschnitten, abgedrängt und … und … und … Sollen die Touries ihre Mühlen doch stehen lassen, wenn sie im Großstadt-Verkehr nicht klarkommen!
Machen Sie als Zugereister oder Tourist das beste draus. Fahren Sie genau so, wie es der Berliner von Ihnen erwartet. Kümmern Sie sich nicht um Abbiegespuren. Gönnen Sie Ihrem Blinker Ruhe – die Berliner selbst haben ja auch eine notorische Angst davor, daß ihre Blinkerleuchte durch übermäßiges Benutzen vor dem Ableben des Automobils für immer erlöschen könnte. Übersehen Sie locker die Fahrbahnmarkierung. Fahren Sie bloß nicht in eine Parklücke, wenn Sie mal schnell auf dem Stadtplan nachschauen wollen, ob Sie sich noch auf dem richtigen Weg befinden. Schleichen Sie nach Belieben oder bleiben Sie auch mal stehen, wenn Sie irgendwo eine der vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt entdecken. Und denken Sie daran: Das wichtigste Instrument Ihres Automobils ist die Hupe. Egal, welche Macken Ihr Fahrzeug hat – stellen Sie vor Ihrem Berlin-Besuch auf jeden Fall sicher, daß ihre Hupe funktioniert. Ansonsten sollten sie vorsorglich folgende Gesten noch einmal üben: Stinkefinger, geballte Faust, Zeigefinger an die Stirn und eben dort entsetzter Schlag der flachen Hand. Natürlich dürfen Sie nicht auf den Mund gefallen sein. Zwangsläufig wird sich irgendwann die Situation ergeben, wo Sie und Ihr Partner im Verkehr die Fensterscheiben herunterkurbeln um Freundlichkeiten auszutauschen. Alles völlig normal.
Sollte es tatsächlich mal krachen – was angesichts der Fahrkünste der Einheimischen erstaunlich selten geschieht – können Sie sich allerdings fast immer auf die Gelassenheit der Berliner verlassen. Da das Unglück nun geschehen ist – und alles Meckern, Hupen, Kurven nicht geholfen hat, es zu vermeiden, schickt man sich in das eben unvermeidliche. Nun gilt es, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Das bedarf keiner Aufregung.
Ach ja, bevor wir es vergessen! In Berlin gilt bei roten Ampeln: Einer fährt immer noch durch. Meistens ein Berliner, manchmal einer aus dem Umland. Das ist allerdings nicht zur Nachahmung empfohlen. Nicht, daß es jemanden ernsthaft stört. Als Ortsunkundiger könnten Sie nur das Pech haben, eine der wenigen Ampeln mit automatischer Kamera zu erwischen.
Ansonsten sollten Sie sich darauf einstellen, daß die Ausschilderung in Berlin ausschließlich für Berliner gemacht ist – die sie allerdings auch nicht immer entziffern können. Nehmen wir die Stadtautobahn. Immer wieder werden Sie vor die Situation gestellt sein, daß vor Ihnen eine überdimensionale, blaue Hinweistafel auftaucht, deren zwei oder drei Pfeile durch Sie so gedeutet werden, daß die Straße sich in entsprechend viele Spuren aufteilt. Dem ist allerdings nicht so. Die Berliner Verkehrsplaner waren lediglich außerstande, Pfeile und Ziele so zu gestalten, daß sie als unbedarfter Autofahrer problemlos begreifen, daß eigentlich alle Spuren genau dorthin führen, wo Sie hinwollen. Trösten Sie sich: Vielen Berlinern geht es trotz täglicher Übung nicht anders. Nach wie vor hält sich das Gerücht, daß auf der Stadtautobahn ausschließlich die äußerste linke Spur für den Geradeaus-Verkehr gilt. Die rechte Spur hat ebenso ausschließlich die Funktion, den abbiegenden Verkehr aufzunehmen. Sollten Sie einen Streckenabschnitt erwischen, der über drei Spuren verfügt, nehmen Sie, falls Sie unsicher sind, vorsorglich die mittlere Spur. Bedenken Sie aber: Es handelt sich dabei mitnichten um eine Fahrspur. Diese Spur dient vielmehr ausschließlich solchen Kfz-Dilettanten wie Ihnen, die eine Schrecksekunde brauchen um zu entscheiden, ob sie geradeaus fahren wollen oder eigentlich doch lieber die Stadtautobahn verlassen möchten.
Apropos Stadtautobahn: Deren Erbauer haben gelegentlich Einfädelungen erdacht, die eben genau dieses unmöglich machen. Das klassische Modell: Vorsichtig ranfahren, Gas geben und einfädeln können sie hier vergessen. Die linke Spur der beiden Zubringer führt Sie zielsicher vor die Stoßstange oder in die Seite des nahenden Lastkraftwagens. Die rechte Spur macht es Ihnen kaum leichter. An unübersichtlichen Stellen – Beispiel Saatwinkler Damm – wird eine Einfädelung vorgetäuscht, die dann jedoch blitzschnell an der Leitplanke endet. Also: Vorsicht!
Ein beliebter Trick der Berliner Verkehrsplaner ist es auch, auf mehrspurigen Hauptstraßen ohne Vorwarnung die linke oder rechte Spur zur Abbiege-Spur umzufunktionieren. Lassen Sie sich dadurch nicht irritieren. Solange Sie ein auswärtiges Kennzeichen haben: Augen zu und durch. Entweder, sie fahren einfach geradeaus, hupen etwas und drängen den Verkehr neben sich in die Defensive. Oder Sie schieben den Blinker raus und drängeln sich zwischen die neben ihnen stehenden Autos. Allein die Tatsache, daß Sie ihren Blinker bedienen, weist Sie als Fremdling aus. Die fahren sowieso wie die Idioten – also: siehe oben.
Sollten Sie als Neu-Berliner mittlerweile über ein Ortsansässiges Kennzeichen verfügen, brauchen Sie die ihnen liebgewordenen Fahrkünste dennoch nicht zu ändern. Sie sollten sie vielmehr kultivieren. Beispiel Mehringdamm Richtung Süden. Sie wissen ganz genau: Vorne an der Gneisenaustraße wird die linke Fahrspur zum Abbieger. Kümmert Sie aber nicht. Ganz im Gegenteil: Beweisen Sie Ihre Ortskenntnis. Fahren Sie an den Trotteln vorbei, die sich verkehrsgerecht eingeordnet haben. Erst im letzten Moment die Lücke suchen, finden und nutzen. Das zeichnet den wahren Könner im Berliner Verkehr aus.
Wenn Sie erst soweit sind, dann werden Sie auch ohne Probleme in zweiter oder dritter Reihe abbiegen, die Bushaltestelle zum rasanten Überholmanöver nutzen oder über die Tankstelle abkürzen. Wer im Berliner Stau steht, ist selber schuld. Vorbeimogeln heißt die Devise. Laßt die anderen hupen, laßt Bremsen quietschen – solange es nicht die eigenen sind.
Diese Taktik gilt natürlich auch an vollen Straßenkreuzungen. Kümmert Sie doch nicht, ob andere vorankommen. Nutzen Sie jede Lücke, stoßen Sie bis knapp an die Stoßstange Ihres Vordermannes vor. Sie versperren jemandem die Durchfahrt? Ist doch sein Problem. Zwingt ihn ja keiner, hier zu fahren, wenn er es nicht kann.
So sehen das übrigens auch verantwortliche Verkehrsplaner der Bundeshauptstadt. Wie schon gesagt: Berliner Verkehrsplanung ist für die Berliner da, nicht für die Zugereisten. So werden Sie – wenn überhaupt – Hinweisschilder auf andere Stadtteile finden – vorausgesetzt, Sie befinden sich auf Straßen, von denen man annimmt, daß sich gelegentlich mal ein Ortsunkundiger Eingeborener hierher verirrt. Hinweise auf andere Städte, damit Sie die Chance haben, die Stadt schnell in Richtung München, Leipzig oder Hamburg zu verlassen, finden Sie äußerst selten. Dafür hat man sich allerdings einen anderen Trick einfallen lassen. Nehmen wir die Ecke Wilhelmstraße/Leipziger Straße im Mitte. Dort findet sich ein blaues Autobahn-Hinweisschild mit den Buchstaben-Zahlen-Kombinationen „A12 A13“. Sie wissen nicht, daß das die Autobahnen sind, die Sie nach Frankfurt/Oder oder Dresden führen? Tja – selber schuld. Der hauptverantworliche Mitarbeiter in der Berliner Verkehrsverwaltung auf die Frage, warum man denn nicht die Zielorte gewählt habe, lapidar: „Nicht genug Platz auf dem Schild“. Sie sehen, Berliner neigen zu praktischen Lösungen – selbst wenn sie mehr als unpraktisch sind.
Natürlich gibt es in Berlin auch Gegenden, in die Sie ohne aktuellen Stadtplan keineswegs fahren sollten. Beispielsweise das Bermuda-Dreieck zwischen Lichterfelde, Mariendorf und Steglitzer Kreisel. Hier können Sie stundenlang fahren ohne durch Hinweisschilder abgelenkt zu werden.
Besonders praktisch ist in Berlin die Busspur. Vielleicht gehören Sie ja zu den auch unter Berlinern besonders beliebten Cracks, die die Busspur gern nutzen, um dem Stau zu entrinnen. Allerdings – obgleich die Berliner nichts lieber sind als Anarchisten – bei der Busspur kehrt so etwas wie Einsicht ein. Die führt sogar so weit, daß die meisten Berliner vergessen haben: Fast alle Busspuren gelten nur zeitlich begrenzt. Dafür gibt es jedoch keine allgemein gültige Regel. Vielmehr haben sich Berlins Stadtplaner überdimensionale Busspur-Hinweisschilder erdacht, die – je nach politischer Opportunität – die individuelle Geltungszeit ausweisen. Vorsorglich natürlich so klein geschrieben, daß Sie als Autofahrer beim Vorbeifahren Null Chance haben, die Uhrzeiten zu entziffern. Gern hat man die Schilder auch so angebracht, daß Laub oder irgendwelche anderen Dinge sie weitgehend verdecken. Warum? Nicht was Sie denken! Es geht nicht darum, diese völlig dusselig-großen Schilder im Stadtbild so unauffällig wie möglich anzubringen. Nein – die eigentliche Ursache liegt ganz woanders. Und sie liegt natürlich auf der Hand. Die Forderung nach Busspuren wurde von Grünen und Roten erhoben. Am liebsten überall und zeitlich unbegrenzt. Die Durchführung der Einrichtung oblag den Schwarzen. Langwierige Koalitionsrunden, die Berlins Große Koalition mehrmals fast an den Abgrund führten, gebaren Kompromisse. So eben die von der CDU durchgesetzte zeitliche Einschränkung der jeweiligen Gültigkeit. Das Aufstellen der entsprechenden Schilder jedoch war Aufgabe einer SPD-geführten Senatsverwaltung. Deshalb eben die viel zu kleinen Buchstaben und die bewußt ungeschickt gewählten Standorte. Für Sie als Kraftfahrer in der Hauptstadt muß das aber nicht zum Nachteil sein. Versuchen Sie – beispielsweise beim Einkaufsbummel – sich die Zeiten zu merken. Wetten, daß Sie bald Gelegenheit finden werden, völlig legal an stehenden Fahrzeugkolonnen vorbei zu preschen. Ignorieren Sie die bösen Blicke der Stauenden – denken Sie wie ein Berliner: „Wenn die zu blöd sind, die Schilder zu lesen …“
Beim Thema Individualverkehr dürfen wir natürlich die Radfahrer nicht vergessen. Berlin ist eine Radfahrer-Stadt. Radfahrer dürfen hier ohne Licht falsch herum die Einbahnstraße hochfahren, Hauptverkehrsstraßen kreuzen ohne auf den Verkehr zu achten, sich rücksichtslos durch vollbesetzte Fußgängerzonen kämpfen – und … und … und …
Als ökologisch bewußte Hauptstadt hat Berlin für die Radfahrer einige Routen ausgeschildert. Was von den Fahrradverbänden energisch gefordert wurde und selbstverständlich als absolut unzureichend gilt. Die Routen-Hinweise sind allerdings für die Berliner Berufsradfahrer – Boten, Ökos, Alternative, Fundis – gänzlich überflüssig. Ebenso wie die Radwege, von denen es in Berlin nach wie vor viel zu wenige gibt. Der echte Berliner Radfahrer ist vollwertiger Verkehrsteilnehmer mit allen Rechten. Vom Autofahrer unterscheiden ihn nur zwei unwesentliche Kleinigkeiten. Erstens: Die Straßenverkehrsordnung gilt für ihn nicht. Zweitens: Schon der kleinste Blechschaden kann tödlich sein.
Bevor wir es vergessen – eines noch. Nicht auszuschließen, daß Sie mittlerweile beschlossen haben, ihren Berlin-Besuch ohne Auto und Fahrrad durchzuführen. Trotzdem besteht seit der Wiedervereinigung unseres Deutschen Vaterlandes das erhöhte Risiko, daß Ihnen auch anderswo ein Berliner begegnet. Sei es auf der Autobahn oder auch bei Ihnen vor der Haustür. Aber keine Angst. Kaum verläßt der Berliner sein Stadtgebiet, wird er zum zurückhaltenden, ja ängstlichen Fahrzeuglenker. Warum? Naja, vermutlich verläßt ihn in der Fremde einfach der Mut.
© 1998 Tomas Spahn