Das Versagen der USA in Nahost und Perspektiven möglicher Konfliktlösungen

Im Herbst 2006 hatte ich einen Text zur seinerzeit aktuellen Situation im Irak und im Nahen Osten erstveröffentlicht, der – wie ich jetzt feststellen konnte – durch die Erfolge der ISIS (Islamischer Staat in der Levante – nicht in Syrien und Irak, wie fälschlich übersetzt) neue Aktualität gewonnen hat.
Manche der seinerzeit skizzierten Zielperspektiven scheinen weiter in die Ferne gerückt denn je – andere hingegen scheinen fast schon Realität zu sein. In der langfristigen Perspektive ist mein 2006er Text heute so aktuell wie damals – umso mehr, als der selbsternannte Löwe in Syrien maßgeblich den Boden bereitet, um irgendwann von Null starten zu müssen. Auch die Perspektive eines zuverlässigen Stabilitätsfaktors Iran ist allem Anschein nach näher gerückt – vom unabhängigen Kurdenstaat ganz zu schweigen.
Ein deutlicher Rückschlag ist in der Türkei festzustellen, da die damals nur angedeutete Gefahr der Islamisierung zunehmend real wird. Unabhängig davon hat sich an dem Streit der „großen Drei“ – Türkei, Iran und Sa’udi-Arabien – wenig geändert. Außer vielleicht, dass in absehbarer Zeit auch Ägypten wieder mehr Regionalinteressen entwickeln wird. Diese aber reichten 2006 ebenso wenig bis nach Mesopotamien, wie dieses heute der Fall ist.

 

Das Versagen der USA in Nahost und Perspektiven möglicher Konfliktlösungen

So genannte irakische Exilpolitiker hatten den Ohren, die es hören wollten, zugeflüstert, das darbende Volk Mesopotamiens warte nur auf die Demokratie. Die Brains sogenannter Braintrusts hatten erdacht, dass eine einzige, erste wirkliche Demokratie im arabischen Nahen/Mittleren Osten der auslösende Stein in einem Dominospiel wäre, das die totalitären Herrscher zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean reihenweise dazu bringen werde, das erwartete Erfolgsmodell demokratischer Irak bereitwillig zu übernehmen.

Die Vereinigten Staaten von Arabien

Das Ziel der erwarteten, zwangsläufigen Entwicklungen: Die Vereinigten Staaten von Mittelsüdwestasien auf Basis der US-Verfassung. Zumindest aber eine Arabische Union, die ihrem Europäischen Pendant in Sachen Demokratie in nichts nachstehen, in Sachen Wirtschaftskraft dank Öl sogar weit voraus sein würde. Totalitäre aber unverzichtbare Partner wie die Sa‘udis, so trusteten die Brains und tankten die Thinks, würden ebenso der Vergangenheit angehören wie ungeliebte, ja verhaßte, glaubensfanatische Mullahs.

Der Wunsch hat sich leider nicht erfüllt. Die immer lauter flüsternden Exilpolitiker wurden als Herrscher ohne Land und Führer ohne Volk vom Feld genommen, die erdenkenden Brains wechselten die Seiten und beklagten, dass seitens ihrer Administration eine falsche Politik zu falschen Ergebnissen geführt habe – dabei hatten doch sie die Richtung vorgegeben, an der sich ihre Administration entlang hangelte.

Von den hehren Kriegszielen wurde nur eines erreicht – ansatzweise. Der irakische Tyrann ist gestürzt. Und wurde gleich einer Hydra ersetzt durch eine beharrlich wachsende Zahl kleiner Tyrannen, die das Land – wenn auch offiziell nie so bezeichnet – in einen Bürgerkrieg stürzten. Durchschnittlich einhundert ermordete oder verstümmelte Bürger am Tag, wussten uns die Medien mitzuteilen. Über Dunkelziffern wird nicht geredet oder geschrieben.

Vernichtung von Massenvernichtungswaffen

Ein weiteres Kiregsziel war die Zerstörung vorgeblicher Massenvernichtungswaffen. Doch die blieben unauffindbar – und erwiesen sich als ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, ursprünglich erdacht, um die Mächtigeren von einem Eingreifen in das Saddam-Kalifat abzuhalten, dann von einem ganz Mächtigen genutzt, um eben dieses Eingreifen zu legitimieren.

Die US-Bürger, ähnlich naiv und blauäuig wie ihre Administration, verloren ob der Verluste an Soldaten und ausbleibender Erfolge in Sachen befreundeter, arabischer Demokratien ihre Begeisterung an diesem Kreuzzug, weshalb zahlreiche Sicherheitsaufgaben auf private Söldnerarmeen ausgelagert wurden. Manch einem schien zu dämmern, dass er sich von Bush und Freunden hatte einlullen lassen, um ungewollt den Wirtschaftsinteressen einiger weniger wie dem Dienstleister Halliburton hilfreich zur Seite zu stehen. Auch die US-amerikanischen Demokraten, anlässlich der seinerzeitigen Kriegseuphorie in Sachen Irak unfähig zur Opposition, waren dabei, sich zu fangen und ihre verfassungsgewollte Aufgabe der Regierungskritik behutsam wieder aufzunehmen – einer der wenigen Lichtblicke in dem Debakel, das die Vereinigten Staaten in den Jahren zwischen 2001 und 2006 in Sachen Freiheitliche Demokratie und Menschenrechte zu bieten hatten.

Strategie und Kriegsziel

Im Herbst 2006 dann war von einem „Strategiewechsel“ die Rede. Strategie, das lehrt uns Carl von Clausewitz, ist jenes Denkmodell, das vor dem Eintritt in den Krieg stehen sollte, um das strategische Kriegsziel zu definieren und über die Entwicklung taktischer Maßnahmen eben dieses zu erreichen. Die Strategie, so haben wir gelernt, bestimmt die Taktik und wird ihrerseits bestimmt vom Kriegsziel.

Wenn nach drei Jahren Interventionskrieg von einem Strategiewechsel die Rede war, bedeutete dieses gleichwohl in der Realität, dass an den langfristigen Kriegszielen „irgendwie“ festgehalten werden sollte. Denn andernfalls hätte man nicht über einen Strategiewechsel nachdenken müssen, sondern schlicht und einfach seine Truppen abgezogen. Weshalb die Frage erlaubt ist, ob tatsächlich von einem Strategiewechsel die Rede sein konnte, oder lediglich die Taktik neu überdacht wurde. Denn gleichzeitig klammerte dieser so genannte Strategiewechsel die Kernfrage aus: Sind die Kriegsziele überhaupt zu erreichen?

Führen wir uns diese Kriegsziele deshalb kurz vor Augen – wobei wir uns auf die offiziellen beschränken werden.

Kriegsziel Eins war die Entfernung des Tyrannen Saddam Hussein. Abgehakt. Und weniger problematisch, als von vielen befürchtet. Doch eben nur ein Etappensieg.

Kriegsziel Zwei war die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen. Doch – siehe oben – diese erwiesen sich als Mär und ihre Vernichtung mangels Vorhandenseins als überflüssig.

Kriegsziel Drei bleibt das Etablieren einer funktionsfähigen Demokratie nach europäisch-westlichem Muster. Davon – wir deuteten es bereits an – ist der Irak weit entfernt. Wie auch anders, setzt ein demokratisches Regierungssystem doch ein demokratisches Staatsmodell voraus – und dieses wiederum eine Staatsidee, die von der breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen und durch demokratische Unterstützung legitimiert wird. Hier jedoch liegt eine Barriere, an der vorbei eine auf realistischer Situationsbeurteilung beruhende Strategie im Irak kaum einen Weg der Überwindung finden wird. Denn: Welches soll die Staatsidee sein, die ein irakisches Staatsvolk einen könnte?

Blicken wir zurück in die Historie. Schauen wir in die Geschichte der europäischen Völker – zu der auch die Geschichte der ehemaligen Kolonien westlich des Atlantischen Ozeans gehören – und in die Geschichte der Völker des Nahen/Mittleren Osten.

Europas erste Staatsidee

Europas erste, völkerübergreifende Staatsidee fand ihre Realisierung im klassischen Römischen Reich. Ihr lag die zivilisatorische Überzeugung zu Grunde, dass der legitime Bürger Roms das natürliche Recht habe, die das Kernland umgebenden Barbarenvölker zu unterwerfen, sie und ihre Ressourcen den Staatszielen Roms nutzbar zu machen und jenen Unterworfenen, die bereit und in der Lage waren, den assimilatorischen Schritt vom Barbaren zum Römer zu gehen, das Tor zum legitimen Bürger Roms zu öffnen. Eine Staatsidee, die – auch wenn sie in ihrer Umsetzung nicht den Ansprüchen einer humanen Gesellschaft moderner Prägung entspricht – im Rückblick durchaus als erfolgreich angesehen werden kann. Nicht zuletzt dank dieser Staatsidee gelang es dem am zentralitalienischen Tiber siedelnden Volk, das seinen sagenhaften Ursprung auf die Brüder Remus und Romulus zurückführte, ein über Jahrhunderte funktionierendes Großreich von der Sahara bis zur Nordsee, von der portugiesischen Atlantikküste und den britischen Inseln bis zum Kaukasus zu etablieren.

Ein Wandel der ursprünglichen, römischen Staatsidee kam – zuerst schleichend und kaum wahrnehmbar – mit der christlich-revolutionären Bewegung seit dem Ende des ersten christlichen Jahrhunderts. Der ursprüngliche Elitarismus des Bürgers Roms gegenüber den Unterworfenen wandelte sich nach Konstantin in den elitären Anspruch einer religiös motivierten Staatsidee, die den Zugang zu Macht und Staatsgewalt an eine gottgewollte Herrschaftsstruktur band. Und die daraus das Recht und den Anspruch ableitete, Völker, die diesen Anspruch einer christlich-gottgewollten Herrschaft nicht zu teilen bereit waren, rücksichtslos zu unterwerfen und – siehe oben – sie nebst ihren Ressourcen gewaltsam unter die Staatsidee zu unterwerfen.

Die indianischen Völker des amerikanischen Doppelkontinents wurden ebenso Opfer dieser Staatsidee wie zahlreiche Völker Afrikas, Asiens und nicht zuletzt Ozeaniens. Es war eine Staatsidee, die sowohl den Weströmischen Nachfolgereichen die Legitimation zur weltweiten Expansion lieferte als auch den oströmischen Nachfolgereichen bis heute dazu dient, ihren Machtanspruch nicht nur über die Zentral- und nordasiatischen Völker zu legitimieren, sondern einen Anspruch islamisch geprägter Völker auf jenes ehedem römisch-byzantinische Kernland im Osten des Mittelmeeres mental niemals akzeptieren zu müssen.

Die gottgewollte Staatsidee Roms war ebenso erfolgreich wie ihr auf den legitimen Bürger Roms beschränkter Vorgänger. Sie war supranational und ihre letzten Vertreter räumten erst das Feld, als das Gottesgnadentum der multinationalen Habsburger Staatsidee und des Zarenreichs der Romanows in Folge des letzten poströmischen Bürgerkriegs von 1914 bis 1918 bürgerlich-revolutionärer Macht weichen musste.

Die Staatsidee des Gottesgnadentums hatte sich bis zuletzt nur dreier ernstzunehmender Gegner zu erwehren. Der erste dieser Gegner war ein quasi identisches Staatsmodell, das seit dem siebten Jahrhundert die Ost- und Südgrenzen des ehedem römischen Staatsgebiets erfolgreich in Frage stellte: Das sunnitische Kalifat des Islam. Es funktionierte – und funktioniert – in vielerlei Hinsicht ähnlich wie die christlich-gottgewollte Staatsidee. Die Legitimation von Macht und Herrschaftsanspruch resultiert nicht aus einer Stammes- oder Volkszugehörigkeit, sondern aus der unbedingten Unterwerfung unter die Religion. Das Maß aller Dinge war auf der einen Seite die Nachfolge Christi und seiner Apostel, auf der anderen die Nachfolge Mohammeds und seiner Sippe. Von Außen betrachtet sind die Unterschiede marginal.

Das christliche Gottesgnadentum hatte durchaus seine Probleme mit der Konkurrenz aus dem arabischen Raum und verlor bis in die Frühe Neuzeit Landstrich auf Landstrich an die dynamische Konkurrenz. Erst der industriell-technologische Fortschritt der Europäer im ausgehenden achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung gab der christlichen Staatsidee die Mittel, die nahöstliche Konkurrenz in Europa erfolgreich zurückzudrängen, mehr noch, deren Herrschaftseliten abzulösen und durch neue zu ersetzen. Dabei reichte die Kraft der miteinander auf gleicher Staatsidee konkurrierenden Mächte trotz mehrerer Versuche nicht einmal aus, um das römische Kerngebiet rund um den Bosporus zurückzuholen – und die ehedem christliche Sophienkirche ist nach wie vor von Minaretten umgeben und gilt – nachdem sie über Jahrhunderte eine der Hauptkirchen islamischer Gottesverehrung gewesen ist – heute als Museum. Diesem Versagen im Sinne der christlich-gottgewollten Staatsidee liegt maßgeblich die Konkurrenz ihrer zunehmend als Imperien und Nationalstaaten anhängenden Mächte zu Grunde, die das Monopol der einen Gottesidee durch ein Oligopol zahlreicher Gottesinterpretationen ersetzte.

Gegner Nummer Zwei des Gottesgnadentums waren die sozialrevolutionären Entwicklungen, in denen Teile der Bevölkerung nicht mehr bereit waren, der gottgegebenen Staatsidee uneingeschränkt zu folgen. Derartige sozialrevolutionäre Entwicklungen begleiteten das Christentum durch seine Geschichte spätestens seit dem Zeitpunkt, als Macht und Herrschaft ihre Legitimität aus dem Willen Gottes zogen – auch wenn sie in der Regel bis in die Neuzeit hinein erfolgreich verdammt auf der Strecke blieben.

Die Herrschenden wussten mit diesen Strömungen unterschiedlich umzugehen: Einige sozialrevolutionäre Bewegungen führten – wie beispielsweise die Franziskaner – zu akzeptierten, dabei jedoch politisch unbedeutenden Ordensbewegungen innerhalb der Kirche. Andere wurden als Ketzer und Häretiker diffamiert, bekämpft, vernichtet. Bis heute erfolgreichster Sozialrevolutionär Roms wurde der Deutsche Martin Luther, der mit seinem Anspruch, eine Kirche der Herrschenden durch eine Kirche des Volkes abzulösen, ungewollt nicht nur die Staatsidee des zweiten Roms in Frage stellte, sondern auch die Lunte legte für eine neue Staatsidee, die letztendlich das Gottesgnadentum zu Grabe tragen sollte: Den philosophischen Anspruch auf ethnisch begründete Selbstbestimmung.

Sozialrevolutionäres Bürgertum

Damit sind wir bei Gegner Nummer Drei, dem eigentlichen Totengräber des Gottesgnadentums. War ein sozialrevolutionäres Bürgertum in Folge Luthers zunehmend mehr Willens, ein eingeschränktes Gottesgnadentum zu akzeptieren (wäre dem nicht so gewesen, hätte keiner der Fürsten und Herrscher, die sich der lutherischen Auffassung zuwandten, diesen Schritt gehen können ohne seinen eigenen Herrschaftsanspruch aufzugeben), entstand eine Staatsidee, die ihre Legitimation nicht mehr aus dem imaginären und nicht zuletzt deshalb unbezweifelbaren Willen eines Gottes bezog, sondern aus der Überzeugung schöpfte, dass Menschengruppen die Bestimmung über ihre staatliche Organisation und damit über Macht und Herrschaft aus ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeit und der daraus resultierenden Identität zu legitimieren hätten. Die Schweiz als freiheitlicher Zusammenschluss von Deutschen, Franzosen, Italienern und Räthoromanen sowie die Niederlande als selbst bestimmte Teilgruppe einer deutschstämmigen Volksgruppe (der Friesen), beide aus dem Widerspruch zum Gottesgnadentum Habsburger Prägung entstanden, waren erfolgreiche Prototypen dieser neuen Staatsidee. Mit dem Impuls der Französischen Revolution und den als solche nicht erkannten Rückzugsgefechten der Herrscher von Gottes Gnaden bis 1918, setzte sich die Staatsidee der Legitimation aus der nationalen Zugehörigkeit heraus in den europäischen Staaten von Alaska bis Neuseeland durch. Das Gottesgnadentum gehört in den aufgeklärten Staaten europäischer Prägung der Vergangenheit an – und gleichzeitig schuf der Verlust dieser Staatsidee und die nicht abschließend definierte Staatsidee der nationalen Legitimation durch demokratisch entwickelte Staatsziele zu Exzessen, die unmittelbar zur Folgekatastrophe führte.

Das nationale Desaster

Die bürgerlichen Eliten, die bereit waren, um eines Teilerfolges der Machtpartizipation den Grundgedanken eines übernatürlichen Willens als Grundlage des Staates aufrecht zu erhalten, waren nicht in der Lage, der Überspitzung dieser neuen, nicht exakt entwickelten und bis zum Ende gedachten Staatsidee erfolgreich Widerstand entgegen zu setzen. So entstanden in den Nachfolgestaaten Roms auf europäischem Boden Staaten, die die Staatsidee der rational-nationalen Legitimation ersetzten durch einen Grundgedanken der irrational-nationalen Übersinnlichkeit – wobei sie die ursprünglich religiösen Werte durch ideologische ersetzten und Gott als solcher nicht mehr existierte, der ursprünglich von ihm hergeleitete Alleinherrschafts- und Überlegenheitsanspruch jedoch übernommen wurde – weshalb auch der deutsche Nationalsozialismus entgegen gern verbreiteter línkspopulistischer Thesen nicht als Pendant zur faschistischen Staatsidee Spaniens oder Italiens, sondern zwangsläufig als eigenständige Entwicklung zu begreifen ist. Und dieses allein schon deshalb, weil der nationale Bezug im Vielvölkerstaat Spanien eine göttliche Legitimation nicht ersetzen konnte und wollte und Italien als katholisch geprägtes Land den Glauben an einen übergeordneten göttlichen Willen auch unter Mussolini nicht zu vernichten vermochte.

Nach dem Desaster der Überspitzung einer laizistisch geprägten Bestimmung der Völker, einander nicht ebenbürtig, sondern jeweils den anderen überlegen zu sein, schien sich in den europäisch geprägten Staaten eine Staatsidee durchzusetzen, die auf der nationalen Selbstbestimmung beruhte, ohne Nation im Sinne eines wissenschaftlich unhaltbaren „Blutrechts“ im Sinne neodarwinistischer Fehlinterpretation zu definieren. Ebenso schien der gleichermaßen desaströse Ansatz oströmisch-slawischer Prägung überwunden zu sein, wonach die die Staatsidee verkörpernde Volksgruppe nur eine Teilgruppe der Nation – oder im konkreten Falle der Nationen – in Form einer allein herrschaftsberechtigten, supranational verstandenen, gesellschaftlichen Klasse zu sein hatte.

Die Hohe Pforte

Wenden wir unseren Blick nunmehr wieder dem Irak zu, so können wir feststellen, dass die dortige Bevölkerung bis zum Ende des Krieges 1914/18, vergleichbar den Bevölkerungen der konservativen Gottesgnadentumstaaten Europas wie Österreich-Ungarn, unter einer religiös legitimierten Staatsidee lebte; maßgeblich verkörpert durch die Hohe Pforte in Istanbul. National-legitimistische Staatsideen wurden erstmals mit den Zionisten in der Inspiration durch Theodor Herzl und dem englischen Agenten und Abenteurer Thomas E. Lawrence in die Region gebracht. Dabei zielten revolutionäre Tendenzen innerhalb von Teilbevölkerungen wie beispielsweise den Kurden oder den arabischen Stämmen der Halbinsel nicht darauf ab, die religiöse Staatsidee in ihren Grundsätzen in Frage zu stellen.

Christlich-abendländische Fremdherrschaft in der Nachfolge des Osmanischen  Reichs und europäische Ausbildung nationaler Eliten führten in der Phase nach 1918 zum Import postreligiöser Staatsideen, die zur Bildung eines Staatsvolkes hätten führen können, das seine Legitimation auf Basis nationaler Grundsätze im Sinne föderaler Kooperationen zur Staatsidee hätte erheben können.

Gleichzeitig jedoch wirkte die willkürliche Grenzziehung durch die europäischen Kolonialmächte ebenso wie die Machtergreifung durch ausschließlich sich selbst als Machteliten definierenden, von den ehemaligen Kolonialmächten gestützten Gruppen nicht nur im Irak, sondern auch in Staaten wie Syrien, dem Libanon oder Saudi-Arabien dem Ziel einer gemeinsamen Staatsidee und mehr noch dem Anspruch einer gemeinsamen nationalen Identität massiv entgegen.

Göttliche Legitimation im Iran

Ironischerweise und gleichwohl auf Grund einer über Jahrtausende währenden, weitgehend autonomen Entwicklung war es ausgerechnet der über ein weitgehend homogenes Staatsvolk verfügende Iran, der als erstes die uneingeschränkte Rückführung der Staatsidee auf die göttliche Legitimation praktizierte. Vielleicht aber auch deshalb kann der Iran der erste Staat in der Region werden, der das Gottesgnadentum überwindet und sich einer modernen, eigen-entwickelten Staatsidee zuwendet.

Nationale Identität in Kurdistan

Im Irak hingegen hat es die Bildung eines Staatsvolkes zu keinem Zeitpunkt gegeben. Statt dessen treffen wir auf höchst unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mit höchst unterschiedlichen Staatszielidealen. Im Sinne einer europäisch geprägten Staatsidee darf die kurdische Bevölkerung als am fortschrittlichsten betrachtet werden. Hier spielt die Religion beim Anspruch, eine nationale Selbstbestimmung zu schaffen – nicht zuletzt aus misslichen Erfahren mit den Glaubensbrüdern anderer Nationalität in den vergangenen Jahrhunderten – eine eher untergeordnete Rolle. Staatsziel ist es, die Selbstbestimmung im Sinne nationaler Identität – durchaus mit völkischen Charakterzügen – dauerhaft zu etablieren.

Sunnitische Fremdbestimmung

Die vorrangig den Süden und Osten des Irak prägende Mehrheitsgruppe der schiitischen Bevölkerung hat zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte etwas anderes kennengelernt als die Fremdbestimmung durch das Kalifat sunnitischer Prägung – und der bislang letzte dieser Kalifen war Saddam Hussein. Soweit die Schiiten des Irak überhaupt ein eigenes Staatsziel entwickeln konnten, lag dieses in der Sicherung der Selbstbestimmung vor sunnitischer Fremdbestimmung.

Es mag mehr als fraglich erscheinen, ob unter dieser Gemengelage ein ernsthaftes Bestreben zu einem gemeinsamen Staat unterschiedlichster nationaler und religiöser Prägung auch nur ansatzweise vorhanden sein kann.

Die sunnitische Bevölkerung ist der größte Verlierer der durch die USA geschaffenen Situation. Ihr von der Baath-Partei geführtes Kalifat wurde eliminiert und zumindest auf dem Papier durch ein Mehrheitssystem der Schiiten ersetzt. In einem demokratisch organisierten Irak ohne verfassungsrechtlich und machtpolitisch abgesicherte Minderheitenrechte kann diese Bevölkerungsgruppe keinem wie auch immer gearteten Demokratiemodell ihre Zustimmung erteilen.

Kein Erfolg durch Strategiewechsel

Damit wird auch deutlich, warum ein bloßer Strategiewechsel der Führungsmacht USA zu keinem Erfolg hinsichtlich der ursprünglich definierten Kriegsziele führen konnte. Notwendig war nicht der Strategiewechsel, sondern eine Neudefinition der Kriegsziele. Erst wenn diese erfolgt wäre, machte ein Strategiewechsel – oder besser: Die Entwicklung einer neuen Taktik – Sinn.

Neudefinition der Kriegsziele

Wie aber konnte – und kann – die Neudefinition der Kriegsziele aussehen?

Das scheinbar am ehesten zu realisierendes Modell könnte die Auflösung des künstlich erzeugten, osmanischen Nachfolgestaates sein. Klassische Folge wäre die Schaffung mehrerer unabhängiger Staaten, die jeder für sich mit eigener Staatsidee und Staatsvolk ihre Entwicklung selbst in die Hand nehmen.

Auf Grund demografischer und ethnischer Gegebenheiten böte sich ein kurdischer Nordstaat, ein schiitischer Südstaat und ein sunnitisch-arabischer Zentralstaat an. Doch auch ein solches Modell wirft eine Unzahl von Problemen auf.

Problem 1 :  Das Ende der Kolonialdoktrin

Ob in Afrika, Asien, ja selbst in Mittel- und Südamerika gilt nach wie vor die Doktrin, die postkolonialen Grenzen nicht anzutasten – jene Grenzen, die oftmals als Folge imperialer Gebietsaufteilung oder aktueller Begebenheiten willkürlich gezogen wurden, ohne dabei auf traditionelle, ethnische, religiöse oder kulturelle Vorgaben Rücksicht zu nehmen.

Der Biafra-Konflikt  in den sechziger Jahren hatte seine maßgebliche Ursache ebenso in dieser Doktrin wie heutige Konflikte im Sudan oder in Indonesien – und eben im Irak. Es ist im Irak sowie den angrenzenden, arabisch geprägten Staaten nach wie vor gültiges Gedankenerbe der ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und dem Vereinigten Königreich ebenso wie angewandte Politik der Großmacht USA, diese Grenzen nicht anzutasten – Selbstbestimmungsrecht und Demokratie werden so gezielt ausgeblendet, obgleich sie als Anspruch über der Intervention stehen.

Dafür gibt es gute Gründe. Denn die in den etablierten Demokratien vorherrschende Befürchtung ist, dass ein erster, international legitimierter Fall der Auflösung eines postkolonialen Staatsgebildes einen Dominoeffekt auslösen könnte. Würden beispielsweise die schwarzafrikanischen Sudanesen ihren eigenen Staat erhalten, warum sollten nicht Haussa oder Tuareg ebenso eine solche Forderung stellen wie Zulu, Timoresen, Tamilen, Uiguren und – mit einem Höchstmaß an Legitimation versehen – Tibeter – um nur einige wenige zu nennen.

Dabei macht der Separatismus nicht in den postkolonialen Staaten halt. Basken, Katalanen, Korsen, Sarden – selbst Südtiroler, Schotten oder Bayern haben ein identisches Recht, ihre nationale Eigenständigkeit einzufordern, wenn sie sich von ihrer jeweiligen Zentralregierung unangemessen behandelt fühlen und sich von einem egozentrischen Separatismus größere Vorteile versprechen. Weil dem so ist, werden gerade die globalen Führungsmächte alles tun, um eine solche Lösung – zumindest offiziell – zu verhindern. Dabei wurde diesem Modell nicht zuletzt mit der Loslösung des Kosovo von Serbien unter Verzicht auf eine nationalstaatlich gebotene Integration in den Nationalstaat Albanien durchaus Vorschub geleistet.

Problem 2 : Der unabhängige Kurdenstaat

Auf Grund der bisherigen Entwicklung im Irak würde ein unabhängiger Kurdenstaat voraussichtlich über eine im Rahmen der Möglichkeiten weitgehend funktionsfähige Binnenverwaltung verfügen. Er hätte ein Staatsvolk – und er hätte dank seiner Erdölvorkommen die Basis, wirtschaftlich erfolgreich zu agieren.

Aus Sicht der USA und Europas könnte er darüber hinaus ein wertvoller Verbündeter in der Region werden. Ein unabhängiger Kurdenstaat hätte eine übergeordnete Staatsidee nach europäischem Muster: Die nationale und selbst bestimmte Heimstatt der Kurden. Spätestens an diesem Punkt allerdings tun sich Widerstände auf, die an dem Erfolg des Zieles eines unabhängigen Kurdistans erhebliche Zweifel aufkommen lassen.

Zum einen hätte dieses Kurdistan mit seiner Gründung in der Region mindestens drei gewichtige Gegner: Die Türkei, den Iran und Syrien. In jedem dieser drei Staaten gibt es kurdische Minderheiten, die schon heute neidvoll auf den Autonomiestatus der Stammesbrüder auf irakischem Staatsgebiet blicken und darüber nachdenken, wie sie selbst eine ähnliche Unabhängigkeit erreichen – oder sich einem freien Kurdistan anschließen können.

Keinem der unmittelbaren Nachbarn kann deshalb an einem erfolgreichen Kurdistan gelegen sein – schon der Autonomiestatus geht den jeweiligen Eliten gegen die eigenen Staatsinteressen.

Sollte darüber hinaus ein nationaler Kurdenstaat nationalistische Tendenzen zeigen, böte er zumindest der Türkei Anlass zur Intervention – siedeln doch in einem möglichen Kurdistan wiederum auch Turkvölker. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an den bis heute ungelösten Zypern-Konflikt. Weiteres Problem eines unabhängigen Kurdenstaates ist der Status der Erdölstädte Mosul und Kirkuk. Sie wurden unter dem Kalifat Husseins bewusst arabisiert, werden von den Kurden jedoch als traditionelles Stammesgebiet angesehen. Araber raus – Kurden rein oder Araber unter kurdischer Regierung: Beide Wege wären menschlich und politisch problematisch. So ist die Variante unabhängiger Kurdenstaat zwar eine Option – mehr aber auch nicht.

Problem 3 : Der unabhängige Schiitenstaat

Ein unabhängiger Schiitenstaat im Süden des heutigen Irak träfe ohne Zweifel auf die ungeteilte Zustimmung der dort lebenden schiitischen Bevölkerung. Angesichts der iranischen Erfahrungen darf jedoch in Frage gestellt werden, ob einer solcher Staat eine freiheitlich-demokratische Staatsidee implementieren könnte. Wahrscheinlicher ist vielmehr die Erwartung, dass stattdessen ein Gottesgnadentum schiitischer Prägung nach dem Muster des Iran die Grundlage des Staates bilden könnte.

Das wiederum kann nicht im Interesse der USA und ihrer Verbündeten sein – und es ist auch nicht im Interesse der sunnitischen Nachbarn. Uneingeschränkte Unterstützung erhielte ein solches Staatsmodell notwendigerweise von Seiten des Iran – nicht zuletzt deshalb, weil dieser davon ausgehen könnte, seinen Einfluss weit nach Westen auszudehnen und die in seinem Einflussbereich verfügbaren Ölreserven deutlich aufzustocken. Ein unabhängiger Schiitenstaat wäre aus westlicher Sicht deshalb nur denkbar als rein säkulares Staatswesen mit unabänderlicher Westbindung – und damit gleichzeitig die Quadratur des Kreises.

Problem 4 : Der sunnitische Reststaat

Ein sunnitischer Reststaat im Irak könnte in den wüstenähnlichen Territorien entstehen, die als “sunnitisches Dreieck” das Kernland des Widerstandes gegen die US-Anwesenheit gebildet haben. Ein Staat auf diesem Territorium wäre eine Missgeburt von Anbeginn an: Wenig Rohstoffe, wenig Landwirtschaft, kaum unabhängige Wasserversorgung. Der sunnitische Reststaat wäre quasi von seiner Gründung an zum Raubrittertum gezwungen: Fehden gegen die Kurden, um Zugang zu Mineralöl und Wasser zu sichern, Fehden gegen die Schiiten, um an deren Mineralölreserven und Meereszugängen zu kommen und dabei gleichzeitig die Wasserverknappung zu mindern, wären unausweichlich. Auch das kann in seiner Konsequenz nicht das Kriegsziel der US-amerikanischen Intervention sein.

Keine völkerrechtlich mögliche Lösung

So will es folglich scheinen, dass die Lösung des Irak-Problems tatsächlich nicht mit völkerrechtlichen Mitteln möglich sein wird. Fast schon mag man geneigt sein, die totalitären Methoden eines Saddam Hussein im Nachhinein zu akzeptieren – wenn es darum geht, einen im Sinne moderner Staatsideen zwar nicht freien, dafür aber zumindest funktionsfähigen Staat Irak zu organisieren. So, wie Russland seine nicht unabhängige, nicht selbst bestimmte, jedoch zumindest weitgehend funktionierende Kolonie Tschetschenien organisiert.

Langfristig allerdings wäre ein solcher Weg – unabhängig davon, ob im Namen des westlichen Demokratiemodells, eines sozialistisch geprägten Panarabismus oder eines schiitischen Gottesstaates aufrecht erhalten – kaum eine unter den Aspekten des Menschen- und Völkerrechts akzeptable Lösung. Dieses gilt unabhängig davon, dass weder die auf irakischem Staatsgebiet lebenden Kurden noch die dort siedelnden Schiiten jemals wieder bereit sein werden, sich einem säkularen, sunnitisch-arabischem Diktat widerstandslos zu unterwerfen. Der Bürgerkrieg, den nur Kofi Annan beim Namen zu nennen wagte, war fünf Jahre nach der US-geführten Intervention Fakt – und alles deutete darauf hin, dass er fortgesetzt würde, bis entweder erneut eine Partei die andere im Zweifel auch unter Intervention außerstaatlicher Kräfte unterworfen hat oder aber alle Parteien in totaler Erschöpfung am Boden liegen, um zu dem zu finden, was Europäer unter menschlicher Vernunft verstehen: Einem kooperativ organisierten Vielvölkerstaat mit ausgeprägter, innerstaatlicher Autonomie. Wie lange allerdings ein solcher Erschöpfungsfrieden hält, das demonstrieren uns wenige Kilometer weiter westlich die Libanesen, die, jeweils nach kurzen Erholungsphasen, regelmäßig auf bürgerkriegsähnliche Zustände zusteuern.

Langfristige Friedenssicherung

Die Erkenntnis bleibt: Offenbar ist eine friedliche, zumindest jedoch eine friedlichere Basis im Nahen/Mittleren Osten nur zu erreichen, wenn die Volks- und Religionsgruppen strikt voneinander getrennt werden – in staatlicher Selbstverwaltung und Eigenverantwortung. Und wenn sie aus dieser Situation heraus lernen, dass sie aufgrund gegenseitiger Abhängigkeit in der Kooperation erfolgreicher agieren können, als singulär-national. Im Hintergrund stünde die Erfahrung der europäischen Nationalstaaten, denen der Singularnationalismus nur scheinbar Unabhängigkeit, dafür aber eine lange Phase der Selbstzerstörung gebracht hatte.

Das Dogma der postkolonialen Doktrin

Wie könnte – lässt man die oben benannten Hinderungsgründe sämtlich außer Acht – eine friedliche Situation im Irak – oder besser: Im Nahen Osten – auf lange Sicht aussehen? Denn auch das muss den Europäern vom Pazifik bis zum Ural  bewusst werden: Gelöst werden kann das, was sie unter Nahostkonflikten verstehen, nur dann, wenn die postkoloniale Doktrin fällt. Was gesucht wird, ist ein Westfälischer Friede, der vielleicht nicht Allen in Allem gerecht wird, aber eine Basis schafft, um die überregionale Verstrickung in langanhaltende Konflikte zu minimieren.

Zeichnen wir zwei theoretische, jedoch menschlich und politisch inakzeptable „Lösungen“:

  1. Der gezielte Genozid an „störenden“ Volksgruppen, die – je nach individueller Sicht der Dinge – Kurden, Schiiten, aber auch Palästinenser, Christen, Aleviten oder Israeli sein könnten. Saddam Husseins Vorgehen gegen rebellierende Schiiten und Kurden hat belegt, dass auch eine solche, nennen wir es sarkastisch „Lösung“, nicht generell außerhalb des Vorstellungshorizontes liegt.
  2. Die dauerhafte, menschenrechtswidrige Unterdrückung einzelner Völker oder Volksgruppen durch andere. Es bedarf keines besonderen Hinweises darauf, dass derartiges Vorgehen gerade in dieser Region bislang zur gängigen Praxis zählte.

Was folglich ist theoretisch denkbar, berücksichtigt zwischenzeitlich geschaffene Fakten und käme dem Ziel, dauerhaften Frieden in der Region zu schaffen, am nächsten?

Ziel 1 : Der Kurdenstaat

Der faktisch bereits bestehende Kurdenstaat wird nur noch unter massiver Intervention von Außen mit der Folge einer der beiden benannten, inakzeptablen Lösungen verhinderbar sein. Unstrittig ist, dass sowohl auf türkischer als auch auf iranischer Seite Bestrebungen existieren, genau dieses Vorgehen in ein mögliches Handlungskonzept einzubinden.

Wenn dennoch der Kurdenstaat kommen soll (und wird), dann wäre dieses langfristig nur durch einen Ausgleich mit den betroffenen Nachbarstaaten möglich sein.

Aus kurdischer Sicht optimal wäre der Anschluss der kurdisch besiedelten Gebiete in der Türkei, dem Iran und Syrien. Keiner dieser Staaten wäre dazu gegenwärtig bereit. Wenn wir jedoch grundsätzlich bereit sind, die Kolonialschöpfung Irak als Staat aufzugeben, könnten sich Wege zum Ausgleich aufzeigen.

Ziel 2 : Der Großstaat Iran

Die staatliche Integration der schiitischen Südregion des Irak in den Iran scheint aus vielerlei Gründen zweckmäßig und sinnvoll. Basis ist die religiöse Grundausrichtung in der Schia. Selbstverständlich wäre eine solche Lösung aus iranischer Sicht der Kaiserweg.

Nicht nur, dass der Iran damit abschließend zum führenden Machtfaktor in der Region würde, er erhielte auch den Zugriff auf bedeutende Ölvorkommen. Aus eben diesen Gründen jedoch werden allen voran die USA, unterstützt durch die sunnitischen Golfstaaten und die Türkei, alles daran setzen, eine solche Lösung zu verhindern.

Und dennoch ist sie – unter bestimmten Prämissen – nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Einerseits könnte ein territorialer Ausgleich erfolgen, in dem die überwiegend kurdisch besiedelten Gebiete im Norden aus dem iranischen Staat ausscheiden und dem Kurdenstaat zugeschlagen werden. Eine derartige Grenzneuziehung wäre in der Lage, postkoloniale Konflikte auf territorialer Ebene zu entschärfen. Bleiben die Probleme des Macht- und Kapitalzuwachses eines Staates, der im Sinne europäischer Staatsdoktrin alles andere als demokratisch ist und zumindest in seinen Verbaldarstellungen eine ständige Bedrohung anderer Staaten nicht nur in der Region darstellt.

Folglich: So lange ein reaktionär-theokratisches System den Iran beherrscht, wird die hier genannte Lösung allein schon wegen des Vetos der Europäer und Israeli ausgeschlossen bleiben.

Doch denken wir einen Schritt weiter: Was könnte geschehen, wenn die Vision eines Groß-Iran unter garantiert demokratischen Vorzeichen in die Verhandlungen einer künftigen Lösung eingebracht würde?

Wie sollten die Mullahs und ihre Handlanger ihrem Volk sowohl im Iran als auch jenen Glaubensbrüdern im Süden des Irak die grundsätzliche Ablehnung eines demokratischen Staatsaufbaus erklären, wenn dieses in der Konsequenz die Unterwerfung unter sunnitisch-arabisches Diktat bedeuten müsste?

Und könnte nicht der Anreiz, über Erweiterung der Ölreserven zur regionalen Führungsmacht zu werden, inneriranische Kräfte mobilisieren, die bis heute scheinbar oder tatsächlich nicht existieren? Festzuhalten bleibt: Ein Großstaat Iran kann mit Zustimmung der Europäer nur unter demokratisch-säkularer Prämisse angedacht werden.

Da jedoch die Geschichte bewiesen hat, dass alle Revolutionen irgendwann ihre Attraktivität verlieren und neuen, anderen Wegen Platz machen – warum sollte dieses nicht auch im Iran möglich sein, dessen Bevölkerung aus seiner Geschichte das Selbstbewusstsein schöpft, seine eigenen Wege selbst bestimmt gehen zu können?

Ziel 3 : Die Arabische Föderation

Panarabische Experimente waren bislang immer zum Scheitern verurteilt. Eine Ursache dafür ist in der inneren Unlogik bisheriger Modelle zu finden. Die Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts angedachte Vereinigte Arabische Republik (V. A. R.) aus Syrien, dem Irak und Ägypten stand als Trutzbündnis gegen Israel nur auf dem Papier. Sie scheiterte nicht zuletzt an der Diskrepanz zwischen nasseristisch-panarabischen Vorstellungen und den national-sozialistischen Auffassungen der Baath-Parteien in Syrien und Irak.

Auch würde eine panarabische Republik unter Einbeziehung Ägyptens allein schon deshalb nicht funktionieren, weil die ägyptische Bevölkerung mit der islamischen Invasion der Araber vor eintausendvierhundert Jahren zwar arabisiert und islamisiert wurde – dieses jedoch nichts daran änderte, dass die Ägypter in ihrer breiten Mehrheit keine ethnischen Araber sind und das Verhältnis zueinander seit Jahrtausenden von gegenseitigem Misstrauen geprägt ist.

Ein tatsächlich panarabischer Staat schien mit dem anti-türkischen Bündnis in dem Konflikt, den die Europäer als Ersten Weltkrieg bezeichnen, in greifbare Nähe gerückt zu sein.. Seinerzeit verbündeten sich mit britischer Unterstützung bis dahin einander befehdende arabische Stämme, um gegen die unter dem Gottesstaatsanspruch des Islam über Jahrhunderte währende, osmanische Fremdherrschaft vorzugehen. Im Ergebnis allerdings stand in den arabisch besiedelten Territorien nördlich der Arabischen Halbinsel lediglich die Ablösung der Türken durch Franzosen und Engländer beziehungsweise von diesen abhängige Kleinherrscher – und im arabischen Kernland der Halbinsel ein gewaltsam erobertes, wahabitisches Feudalreich, das seine Stammesprivilegien gegen Demokratie und Selbstbestimmung bis heute gezielt und erfolgreich zu verteidigen weiß.

Weitere Ergebnisse der kolonialen Einflussnahme waren – neben dem Irak – Staaten wir Syrien, Jordanien, Palästina, Kuwait und der Libanon. Keiner dieser Staaten begründet sich aus anderen Ursachen als kolonialen Vorgaben. Die Siedlungs- und Wandergebiete der nomadisierenden Araber gingen und gehen über die postkolonialen Staatsgrenzen hinweg, Stammesverwandtschaften machen an der Grenzziehung nicht halt.

Mehr noch als Syrien ist Jordanien eine reine Kopfgeburt, die lediglich entstand, weil man das ehedem britisch verwaltete Nordarabien weder dem zwischenzeitlich französisch dominierten, als Syrien bekannten Territorium noch dem nominell unabhängigen Sa‘udi Arabien zufallen lassen wollte. Die Grenzziehung zwischen Syrien und Jordanien war im Ersten Weltkrieg auf dem Reißbrett zwischen den Herren Sykes und Picot ausgehandelt worden. Die Bewohner der Region hatte man nicht gefragt.

Ähnliches gilt für Syrien, dessen Grenzziehungen ebenfalls weitgehend unter Ausblendung historisch-ethnischer Begebenheiten als Folge der Zerschlagung des Osmanischen Reichs entstand. Arabisch geprägte Beziehungen in den Irak, nach Jordanien, dem Libanon und Sa‘udi Arabien bestanden und bestehen fort.

Etwas anders gelagert ist die Situation im Libanon, innerhalb dessen Staatsgebiet christliche Bevölkerungsteile ebenso wie drusische Bürger leben, die über wenig Affinität zum arabisch geprägten Syrien verfügen. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat jedoch neben den syrophilen, sunnitischen Arabern eine ursprünglich wenig bedeutende Gruppierung an Gewicht gewonnen, die ein besonderes Problem darstellt und in der schiitischen Hisbulah ihre politische Vertretung gefunden hat.

Eine langfristige Überwindung der Konfliktpotentiale könnte darin gesucht werden, die postkolonialen Staaten in einer tatsächlich arabischen Föderation zusammen zu fassen. Die nördlichen arabischen Staaten Syrien, Libanon, Jordanien und der Südwesten des Irak bilden weitgehend eine historisch-ethnische Einheit, die bis weit in die Arabische Halbinsel hineinwirkt. Dabei sind allerdings mehrere Problembereiche zu berücksichtigen.

Erstens: Die Stammes- oder Clan-Identität steht bis heute in vielen Fällen über einer Staatsidee im europäischen Sinne. Hier ähnelt die arabische Region weitgehend dem Vielvölkerterritorium Afghanistan, dessen Zentralregierung sich auf nominale Macht beschränkt und im übrigen Clanführern und Warlords kampflos das Feld überlässt, solange diese die Außendarstellung der Zentralregierung unangetastet lassen.

Zweitens: In der postkolonialen Ära haben sich in den künstlich geschnittenen Staaten Herrschaftseliten höchst unterschiedlicher, weitgehend jedoch totalitärer, zumindest undemokratischer Denkungsart gebildet. Zu erwarten, dass diese Eliten gewaltfrei auf Machtansprüche verzichten, dürfte weitgehend illusorisch sein.

Drittens: In allen betroffenen Staaten einer möglichen, sunnitisch geprägten, arabischen Föderation existieren ethnische und/oder religiöse Minderheiten, die auf Basis bisheriger Erfahrungen mit arabisch-islamisch dominierten Staaten wenig Bereitschaft verspüren werden, sich in eine arabische Föderation einzugliedern. Semitische Drusen, schiitische Minderheiten, maronitische und chaldäische Christen, Jesiden, Turkvölker, Kurden und nicht zuletzt Juden seien hier exemplarisch genannt.

Viertens: Die nordarabische Region zwischen Mittelmeer und Euphrat verfügt über wenig eigene Süßwasservorräte, agrarisch nutzbare Regionen sind ebenso wie Rohstoffquellen ungleich verteilt. Es wäre daher ein System des Ausgleichs zu organisieren, vergleichbar dem Länderfinanzausgleich der Bundesrepublik Deutschland. Ob dieses angesichts der Dominanz von Stammesprägungen umsetzbar ist, mag angezweifelt werden.

Fünftens: Ein jüdisch dominierter Staat Israel wird unter nachvollziehbaren Aspekten alles daran setzen, eine staatliche Einigung der arabischen Territorien zu verhindern.

Sollte das Ziel einer arabischen Föderation gleichwohl als einzig langfristig befriedende Maßnahme Zielperspektive sein, sind diese Problembereiche einer tragfähigen Lösung zuzuführen, die jedoch nicht unmittelbar absehbar ist.

Ziel 4 : Stabilitätsfaktor Türkei

Trotz aller innenpolitischen Schwierigkeiten hat sich – neben Israel – die Türkei als einzig funktionierendes, demokratisches Staatswesen in der Region etabliert. Die dauerhafte Stabilisierung dieser dem Anschein nach dennoch anfälligen, säkularen Demokratie als Stabilisierungsfaktor in der Region ist notwendig zu gewährleisten.

Sollte es der inneren Entwicklung der Türkei gelingen, ethnisch-nationale Bestrebungen ebenso zu überwinden wie islamistischen Tendenzen zu widerstehen, spräche vieles dafür, das heutige türkische Staatsgebiet im Südosten um jenen oben skizzierten Kurdenstaat territorial zu erweitern – und gleichzeitig den türkischen Zentralstaat durch einen föderativen Staatenbund Anatolien und Kurdistan zu ersetzen und diesen als Gegenpol zu den schiitischen Iranern im Osten und den sunnitischen Arabern im Süden zu etablieren.

Drei gleichrangige Föderationen

Am Ende einer wie hier skizzierten Neuordnung könnte daher ein Machtgleichgewicht dreier weitgehend wirtschaftlich wie militärisch gleichrangiger Föderationen stehen, deren historische Verknüpfungen darüber hinaus ein kooperatives Zusammenwirken in der Region ermöglichen und einen nachhaltigen Aufschwung aller Beteiligten bewirken könnte.

Voraussetzung eines solchen Modells ist jedoch nicht nur der Verzicht aller Beteiligten auf regionale Hegemonie, sondern mehr noch die Überwindung des präkolonialen Gottesherrschaftsanspruchs durch eine islamisch geprägte Aufklärung. Die  Problematik dieser Vorstellung wird umfassend im dem Essay „Aufstand des Islam – Kampf gegen den Humanismus“ erörtert. (http://www.beam-ebooks.de/ebook/34932)

Voraussetzung ist neben einer inner-islamischen Aufklärung darüber hinaus die Bereitschaft der europäischen Mächte einschließlich der USA, eine autonome Entwicklung und Staatenbildung jenseits postkolonialer Gebietsaufteilungen und Herrschaftsansprüche unabhängig von dem legitimen Ziel einer friedlichen Ressourcensicherung nicht nur zuzulassen, sondern gezielt zu befördern. Die nach wie vor im Kern rassistische Auffassung, islamisch geprägte Völker wären zu einer freiheitlich-demokratischen Entwicklung per se nicht in der Lage, wäre ebenso zu überwinden wie die kolonialistisch geprägte Vorstellung, dass ausschließlich das europäische Demokratiemodell das Selbstbestimmungsrecht von Völkern und die Freiheit des Individuums zu gewährleisten in der Lage ist.

Den Völkern der Region zwischen Indus und Nil – und letztlich bis an den nordafrikanischen Atlantik – wäre das Recht zuzugestehen, eigene Wege eines demokratisch verfassten Rechtsstaates islamischer Prägung zu gehen. Den europäischen Staaten, zu denen in diesem Kontext immer auch die europäisch geprägten Staaten auf dem amerikanischen Kontinent zählen, hätten hierbei die Aufgabe, entsprechende eigenstaatliche Entwicklungen gezielt zu befördern und ihnen im Zweifel zur Seite zu stehen, ohne dabei vorrangig das eigene, wirtschaftliche und geopolitische Interesse in den Vordergrund zu stellen.

Sollte diese unvermeidbare Neuorientierung auf allen Seiten nicht gelingen, so wird das „Pulverfass Nahost“ langfristig ein solches bleiben – mit unabsehbaren Folgen nicht nur für die dort siedelnde Bevölkerung.

©2006-2014 Spahn/FoGEP

Erstveröffentlicht in „kritikus 2/2006“

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